Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
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Gastfreundschaft für Flüchtlinge
Leben in Gemeinschaft
Befreiung und das gute Leben

von Jens-Christian Falk / September 2013

Pastor Jens-Christian Falk von unserer örtlichen Thomaskirche ging kürzlich in den Ruhestand. In seiner Abschiedspredigt sprach er aus, wofür es sich in all den Jahren zu streiten lohnte. Wir geben hier die Predigt leicht gekürzt wider.

 

Liebe Gemeinde,

der Pastor hieß früher in den Dörfern und Landgemeinden "de schwatte Schandarm", und Kirche wurde verstanden als eine Anstalt, um das Verhalten der Leute zu bessern – sie in geregelten Bahnen zu erziehen von klein auf. Insbesondere der Gehorsam gegenüber den Obrigkeiten sollte durch Predigt und Katechismus-Unterricht eingeprägt werden. Dazu schickten Eltern die Kinder in den Konfirmandenunterricht, damit sie die Gebote lernen, vor allem das Vierte. Ich fand vorgestern in einem plattdeutschen Gesangbuch einen Liedvers: “De Klock hett tein slaan, tein is de Klock.” (Die zehn Gebote setzt Gott ein, Mensch, du sollst gehorsam sein.)

Die 10 Gebote sind also Text für diesen Sonntag, so wie sie im 2. Buch Mose im 20. Kapitel aufgeschrieben sind. Ich les' das jetzt nicht vor; ich setz mal voraus, dass euch und Ihnen der Inhalt irgendwie vertraut ist – sehr viele von Ihnen kennen aus dem Konfirmanden-Unterricht. Sicherlich nicht nur die Gebote, sondern zusätzlich auch noch Luthers Erklärungen.

Der Predigttext ist also bekannt. Aber es gibt, wenn man dann in die Bibel schaut und bei 2. Mose 20 liest, ein paar Dinge, die überraschend und auffällig anders sind als bei Luther im Katechismus. So geht's los: "Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." Der kleine Nebensatz, in dem von der Befreiung aus Sklaverei die Rede ist, war schon gestrichen, als wir das 1. Gebot im Konfirmandenunterricht lernten. Dabei ist das doch der Einsatzpunkt, die Überschrift über das Ganze. "Befreiung" ist das Thema, nicht Gehorsam und Unterwürfigkeit. Wer den Satz weglässt, verkürzt ja die Botschaft der Gebote um das Entscheidende. Es geht doch um eine Eigenschaft oder Qualität Gottes. Wer von Gott spricht, muss von ihm als Befreier reden, sonst redet er nicht vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs; auch nicht von dem Gott, auf den Jesus vertraut hat und den er Vater nannte. Das Herausführen aus Abhängigkeiten ist die grundlegende Eigenschaft Gottes.

Warum nur ist im Kleinen Katechismus dieser Relativsatz im 1. Gebot verschwiegen? Hat Luther das bewusst weggelassen? Es ist wohl gut möglich, dass damals die meisten Leute dachten: das gilt doch nur für die Juden, dass sie aus Ägypten herausgeführt wurden – nicht aber für uns. Wir sind ja nicht dort Sklaven gewesen, auch unsere Vorfahren nicht. In der Tat ist es für die Juden unauslöschlich eingeprägt und verwurzelt, dass sie aus der Knechtschaft befreit worden sind, denn sie feiern es jedes Jahr im Frühjahr als ihr höchstes Fest, das Passah. Sie vergegenwärtigen in den Familien diese Geschichte so, dass sie sie wie Theater nachspielen, in Wanderkleidern und -schuhn, mit bestimmten Speisen, die je ihre besondere Bedeutung in dem Drama haben, so dass sie gar nicht vergessen können, sondern sie spielen alle mit, so als seien sie selbst bei diesem Auszug aus Ägypten dabei.

Aber bei den meisten Menschen im christlichen Abendland gibt es doch auch ein höchstes Fest; und dabei geht es ganz genauso um Befreiung, Erlösung sagen wir manchmal. Aber das Fest ist so gezähmt und überkleistert, dass wir nichts merken, selbst wenn die meisten Lieder vom "Heiland" sprechen und das weltweit bekannteste Weihnachtslied die Worte enthält: "Christ der Retter ist da!” Man könnte ebensogut singen: “Christ der Befreier ist da!"

Am Ende des Befreiungsweges, den die Israeliten bis in die Wüste hinein geführt wurden, empfangen sie am Heiligen Berg die Gebote, die Mose ihnen verkündet. Eindeutig liegt der Sinn dieser 10 Merksätze darin, die geschenkte Freiheit zu bewahren. Die zehn Worte sind ja an erwachsene Menschen gerichtet – nicht an Kinder, die zum Gehorsam genötigt werden sollen.

Zu leicht geschieht es, dass die Menschen auf dumme, egoistische und selbstbezogene Gedanken und Handlungen kommen. Sie missbrauchen und übervorteilen den Nächsten und zerstören die mitmenschlichen Beziehungen. Oder sie beuten sich selbst, die eigene Arbeitskraft aus, so dass sie gar nicht mehr zur Besinnung kommen – auch an den schöpferischen und befreienden Gott nicht mehr denken. Die Gebote setzen Grenzen, damit die gewonnene Freiheit nicht gleich wieder verloren geht. Und indem diese Regeln Grenzen ziehen, sind sie Lebenshilfe, Hilfe zu einem guten Leben für alle.

Und natürlich sind sie verbindliche Handlungsanweisungen, Thora – sagen die Juden, und führen zu einer Ethik, die hoffentlich alle leben lässt. Es kann ja nicht gut gehen, und geht faktisch nicht für alle zum Guten aus, wenn man hier in Europa Vorschriften erlässt, dass wir unsere Autos mit 10% Biosprit betanken müssen – und anderswo wird dafür Regenwald abgebrannt oder abgeholzt, damit dort Ölpalmen in Plantagen angebaut werden können, und den Menschen auf Sumatra und Borneo wird dadurch das Land zum Anbau ihrer Lebensmittel entzogen. Einmal ganz davon abgesehen, dass die Brandrodungen unendliche Mengen an CO² in die Umwelt entlassen, die das Klima bösartig verändern. Der Welt-Klimarat hat ja vorgestern erst seinen neuesten Bericht veröffentlicht und macht uns eindringlich klar, in welch grober Fahrlässigkeit, Gedankenlosigkeit oder Böswilligkeit wir uns langfristig selbst schaden durch unsere Lebensweise.

Wachstum der Wirtschaft wird allenthalben als Strategie verfolgt und zur Bewältigung der verschiedenen Krisen angepriesen: mehr Fernreisen per Flugzeug, mehr Kreuzfahrten für immer mehr Menschen, größere Containerschiffe, damit die größeren Warenströme den immer größeren Konsum in den Industrie-Ländern befriedigen können.

Zum Glück wird langsam vielen Menschen klar, dass dies nicht unendlich so weitergehen kann. Wir haben ja die Erde nicht drei oder viermal zur Verfügung, sondern müssen Sorge tragen, dass wir diese Eine nicht völlig ruinieren. Darum wächst langsam das Bewusstsein, dass wir von einer Ethik des Wachsens weg-kommen müssen zu einer "Ethik des Genug", zu einem Wirtschaften und Ver-halten, das gutes Leben für alle als oberstes Ziel verfolgt. Und dabei kann man sich dann durchaus auf die Gebote berufen.

In Ecuador gilt seit 2005 eine neue Verfassung, in der dieses Wort "vivir bien", gut leben, acht mal vorkommt, und in der Präambel als oberstes Ziel der Politik fest geschrieben ist. Aber auch hier in Europa beschäftigen sich zunehmend Menschen mit der Frage: wie kommen wir zu einer "Ethik des Genug", die wahnsinniges und sinnlos gieriges Wachstum ablöst und zu gutem Leben führt. .(..)

Vielleicht haben Sie, liebe Gemeinde, bei diesen Worten eben auch das: "Du sollst nicht begehren ..." der Gebote mitgehört. Eigentlich kann man, wenn die grundlegenden Bedürfnisse zufriedengestellt sind, auch sagen: Jetzt reicht's; ich hab, was ich brauche! Ich brauch nicht immer noch mehr! Aber: "wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug" – so heißt es in einem alten Ausspruch von Epikur. Ich beende hier den Ausflug in die Ökonomie, zu dem ich durch das Stichwort "gutes Leben" angeregt wurde.

Die Menschen, die im Gefolge des jüdischen und christlichen Glaubens mit den 10 Geboten in Berührung kamen, sind im Laufe der Geschichte immer wieder darauf gestoßen, dass dieses grundlegende Dokument, eine Magna Carta der Werte und des Zusammenlebens, ein neues und genaues Hinhören lohnt und nötig macht. In immer neuen konkreten Situationen kann sich jeder Mensch fragen, was diese 10 Worte mir sagen wollen, welchen Anspruch sie erheben. Sie sind und bleiben eine wichtige und gute Orientierung oder Wegweisung zum Handeln. Das Hören auf die Gebote nimmt Gott und auch die Mitmenschen in den Blick; und fördert die Solidarität, wenn man entdeckt, dass jemand zu kurz kommt, ungerecht behandelt oder gar verraten und verkauft wird. Es geht dem Glauben an Gott um “Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist” – so sagt es die Lesung aus dem Römerbrief, die wir vorher gehört haben. Wir werden von Gott befreit, um dem Frieden zu dienen, das baut gute Gemeinschaft unter den Menschen auf.

Wenn wir der Einladung folgen, uns daran zu beteiligen, werden wir die Gebote auch nicht als eine Last empfinden, sondern so, wie es Dorothee Sölle einmal gesagt hat: "Wir kennen deinen Willen, Gott. Leben in seiner Fülle hast du allen versprochen... Wir danken dir für deine vielen "Du sollst!" Mit ihnen fragst du uns ab nach unseren Geschwistern, den Bäumen und den Tieren, dem Wasser und der Luft, nach unserer Zeit fragst du und nach dem, was uns wichtig ist. Eines Tages, Gott, werden wir alle deine "Du sollst!" verwandeln in ein großes "Ja, ich will." Amen.



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