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Wie gedenken wir?

Dietlind Jochims (r.), wird von KollegInnen beglückwünscht

von Dietlind Jochims / November 2014

Pastorin Dietlind Jochims wurde am 16.11. im Rahmen des „Gedenkgottesdienstes für die Toten an den EU-Außengrenzen“ als Flüchtlingsbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland eingeführt. Wir dokumentieren hier ihre Predigt.

Letzte Woche wurde in Deutschland erinnert und gefeiert: Der 25jährige Jahrestag des Falls der einen Mauer, der vielen Menschen ein Leben in mehr Freiheit ermöglicht hat, wurde erinnert und gewürdigt.

Viele andere Mauern und Zäune bestehen fort. Sie schotten Europa ab, sie machen die Grenzen unüberwindbarer, sie machen das Überqueren dieser Grenzen lebensgefährlich. Viele bezahlen den Versuch, über Meere, Mauern und Zäune zu Freiheit und Sicherheit zu gelangen, mit ihrem Leben.

Zum Jahrestag des Mauerfalls wurde auch der Menschen gedacht, die damals ihren Wunsch nach Freiheit mit dem Leben bezahlt haben. An sie erinnern am Reichstagsufer in Berlin sieben große weiße Holzkreuze.

Kurz vor Beginn der Feierlichkeiten letzte Woche gab es große Aufregung: Die Kreuze zum Gedenken an die Mauertoten waren verschwunden. Eine Gruppe bekannte sich zu dem Diebstahl. Die Kreuze, so sagten sie, seien unterwegs zu den Außengrenzen Europas. Symbolisch sollten sie dort an die vielen Menschen erinnern, die immer weiter und immer noch ihren Weg zu mehr Sicherheit und Freiheit mit dem Leben bezahlen.

Und tatsächlich tauchten kurz danach im Internet Bilder auf. Sie zeigten die Holzkreuze in Marokko an der Grenze zur spanischen Exklave Melilla und an den Grenzzäunen in Bulgarien und Griechenland.

Man kann über diese Aktion unterschiedlicher Meinung sein. Sie ist eine Provokation, ja. Aber sie stellt eine wichtige und richtige Frage: Wie gedenken wir?

Vor unseren Augen, an den Außengrenzen Europas, nimmt eine humanitäre Katastrophe ihren Lauf. Vielleicht braucht es eine Provokation, damit die Zeremonie des Gedenkens nicht zur bloßen Selbstvergewisserung wird.

Wie gedenken wir?

Haben wir etwas gelernt aus den Todesfällen an der innerdeutschen Grenze? Was bedeuten die Mauertoten? Was verlangen sie?

Sie sind Mahnung, sie sind Auftrag, sie rühren am morali-schen Kern unserer Zeit. Dass Mauern und Zäune und Gren-zen nicht dazu da sein dürfen, um Menschen zu töten oder zu Tode kommen zu lassen, das könnte ein wirkliches Gedenken sein.

Gedenken bedenkt nicht nur die Vergangenheit. Gedenken sieht die Gegenwart und Gedenken lehrt für die Zukunft.

Gedenken ist eben nicht nur Erinnern. Es ist Erschrecken und Scham und Aufwachen.

Der Toten gedenken heißt die Lebenden schützen

Letztes Jahr, nach einer der Katastrophen vor Lampedusa, schien es kurz, als sei das Erschrecken nachhaltiger, als würde Europa aufwachen. Papst Franziskus kritisierte die Globalisierung der Gleichgültigkeit, fragte eindringlich: „Wo bist du, Europa?“ und „Wo sind deine Schwestern und Brüder?“. Italien startete das Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum, das über 100.000 Menschen in einem Jahr aus dem Meer rettete.

Aber das Erschrecken ist wieder verhallt. Mare Nostrum wird beendet und das Folgeprogramm der Grenzsicherungsagen-tur Frontex, Triton, legt die Priorität wieder deutlich auf Abgrenzung und nicht auf Rettung. Nur 30 Seemeilen um das europäische Festland herum wird patrouilliert. Gestorben wird im ganzen Mittelmeer.

Die Grenzen werden undurchlässiger gemacht, aber alternative, sichere Fluchtwege für Menschen, die Schutz benötigen, werden nicht geschaffen.

Wo Abwehr Vorrang hat vor der Rettung, da läuft etwas dramatisch falsch, hat der Menschenrechtskommissar der EU dazu gesagt.

Humanitäre Hilfe ist kein Verbrechen!

Dazu eine weitere Anknüpfung an das feierliche Gedenken letzte Woche: Es wurde in Berlin auch gedacht an diejenigen, die Menschen geholfen haben zu einem Leben in Freiheit.

Die ein bisschen wie Mose waren, der das Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten in die Freiheit geführt hat und dafür in die Bibel eingegangen ist als der Befreier, in seinem Tun von Gott begleitet und gesegnet.

Die Fluchthelfer, an die gedacht wurde, haben Menschen aus der ehemaligen DDR zur Flucht verholfen. Sie haben dabei Pässe gefälscht, Grenzen illegal überschritten und Gesetze gebrochen. Etliche von ihnen wurden für ihr mutiges Handeln als Helden gefeiert und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Auch im Jahr 2014 gibt es solche Menschen. Sie wurden von ehemaligen Nachbarn gefragt, ob sie helfen könnten, Ver-wandte aus dem Krieg in Syrien nach Europa zu bringen – und sie haben geholfen. Dabei wurden Pässe gefälscht, Grenzen illegal überschritten und Gesetze gebrochen. Etliche Männer, Frauen und Kinder konnten so in Sicherheit gebracht werden.

Als Heldentat gilt diese humanitäre Hilfe allerdings nicht. Im Gegenteil. Einige der Menschenretter wurden von einem deutschen Gericht zu langen Haftstrafen verurteilt und sitzen in deutschen Gefängnissen.

Gute Fluchthelfer damals? Böse Schleußer heute? So einfach, denke ich, ist das nicht.

Wir mögen nicht so großmütig sein wie Gott, der die Flucht des israelischen Volkes aus Unfreiheit unter seinen Segen stellt. Aber Grenzen aufzurüsten und sichere Fluchtwege zu unterbinden, Lebensretter für viele Jahre in den Knast zu stecken, humanitäre Hilfe zu bestrafen, das verträgt sich sehr schlecht mit dem großen Feiern der Freiheit. Es verträgt sich genauso schlecht mit den Werten von Menschlichkeit und Schutz von Verfolgten, die Europa und unser christliches Abendland sich auf die Fahnen geschrieben hat.

Wie gedenken wir? Welche Verantwortung erwächst aus der Geschichte, aus unseren Geschichten für uns?

Die Bibel: Geschichten der Erinnerung und Mahnung

Dazu die Erinnerung an eine biblische Geschichte, eine der bekanntesten: Alle Jahre wieder, kurz vor Weihnachten erinnern wir uns. Die Krippen werden ausgepackt, die Szenen geprobt. Maria und Josef klopfen an die Türen und finden nur schwer Ein-lass und ja, Jesus war doch auch ein Flüchtlingskind.

Es häufen sich bei uns im Büro die Anfragen, ob wir nicht eine Flüchtlingsfamilie, möglichst mit Baby, kennten, die als Illustration dieser Geschichte dienen könnte...

Weihnachten ist manchmal auch so ein Gedenken, das Gefahr läuft, das Erschrecken und das Aufwachen zu übergehen.

Der Schriftsteller Ilja Trojanow hat das einmal so gesagt: „Wir führen gerne Worte wie Menschenrechte im Mund, wir haben es uns in Nischen der Humanität gemütlich gemacht; was unser System und unser Wirken verwerflich macht, blenden wir aus, rationalisieren es weg.“

Aber die Toten und die Verantwortung für die Lebenden lassen sich nicht weg rationalisieren.

Es ist nicht zu überhören, das Rufen aus dem alten Psalm „Warum hast du mich verlassen?“

Es gibt die Erinnerung, dass es einmal anders war und anders sein soll: Es gibt die Erinnerung an einen Gott, der hilft. An einen Gott der Schwachen und Verfolgten. An einen Gott, der auf der Flucht zur Seite steht.

Aber jetzt? Die Verzweiflung darüber, dass dieser Gott nicht da zu sein scheint. Warum? In der Feindseligkeit der Welt und der Menschen wird die Abwesenheit Gottes vermutet. Warum hat die Welt mich vergessen? Warum kommt keine Hilfe? Warum hat Gott mich verlassen?

Schon das Hören dieser Gebete, des Schreiens tut weh. Aber sie sind wichtig.

Der Theologe Fulbert Steffensky versucht eine Erklärung dafür, warum es wichtig ist, solche Gebete und Geschichten zu hören: „Man kann seine Ohnmachtsgefühle nicht zum Maßstab machen. Die Leute haben ja Gesichter und ein Recht, dass ihre Geschichte erzählt wird.“ Der Schmerz darüber kann auch produktiv sein. Er ist „gegen das narkotische, ungestörte Lebensgefühl wichtig.“ Wer sich von den Geschichten „verstören lässt, dessen Moral kann sich auch bilden, dessen Zorn. Das ist ja mit das Produktivste, was wir haben gegen die haltlose Friedfertigkeit, in der wir leben, während die Welt brennt.“ Unser Erschrecken und unsere Scham, der Zorn und unser Aufwachen.

Gott wird spürbar in dieser Welt

Gott wird als abwesend erfahren in der Feindseligkeit der Welt. Aber Gott wird auch umgekehrt erfahrbar in unserem Handeln: Wenn wir uns in unserem Tun erinnern an den Gott, der hilft, den Gott der Schwachen und Verfolgten, der auf der Flucht zur Seite steht, dann wird er spürbar in unserer Welt.

Das hoffe und glaube ich. Und das gibt mit Kraft.

Möge unser Gedenken in diesem Sinn die Toten würdigen und die Lebenden schützen.
Amen.

Psalm 22 (gekürzt)

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Am Tage rufe ich, doch du antwortest nicht,
ebenso in der Nacht, doch finde ich keine Ruhe.

Ich bin ausgeschüttet wie Wasser,
 alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst.
Mein Herz ist in meinem Leib wie zerschmolzenes Wachs.
Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe
und meine Zunge klebt mir am Gaumen.
Du legst mich in des Todes Staub. 

Gott, sei nicht fern, meine Stärke, eile, mir zu helfen.
Denn du hast nicht verachtet noch verschmäht  das Elend der Armen
und dein Antlitz nicht vor ihnen verborgen,
und als sie zu dir schrieen, hörtest du's.



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