Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
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Gastfreundschaft für Flüchtlinge
Leben in Gemeinschaft
Es gibt keine Gotteserkenntnis an den Armen vorbei

von Fulbert Steffensky / März 2005

Fulbert Steffensky ist vielen Menschen durch seine Bücher oder Veranstaltungen bei Kirchentagen bekannt. Wir hatten Herrn Steffensky eingeladen, mit uns gemeinsam über eine 'Spiritualität von unten' nachzudenken, über das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und was das mit unserem Glauben zu tun hat. Der Abend am 1. Februar wurde mit Gitarrenmusik von Matt Clemens begleitet.

 

Liebe Geschwister, ich habe mir bestimmt schon dreißigmal vorgenommen, nicht mehr über Spiritualität zu reden. Dann kommen immer wieder so nette Leute, die einen dazu veranlassen. Jesus - ein spiritueller Mensch?

Ich bin skeptisch geworden gegen diesen Begriff, weil er so allgemein geworden ist und weil niemand mehr genau weiß, was darunter zu verstehen ist.

Sie haben ihn versehen mit einem Zusatz "Spiritualität von unten". Ich habe mich gefragt, ob Jesus eigentlich ein spiritueller Mensch gewesen ist. Es ist mir nicht ganz klar nach unseren Maßstäben, oder nach den schwammig gängigen Maßstäben, ob er es wirklich war. Er war nicht allzu oft im Tempel. Er hat sich zwar in der Wüste vorbereitet vor seinem öffentlichen Auftreten, aber er hatte da höchst spärliche Erscheinungen. Nur in der allergrößten Not, so wird berichtet, dass der Engel kam und ihn getröstet hat. Er hat keine Technik in der Selbststeigerung gehabt oder des Versinkens in sich selbst, er hat vermutlich auch nicht Perlen des Glaubens gehabt. War er ein spiritueller Mensch? Ich weiß es nicht ganz genau - vielleicht, wenn man Spiritualität anders versteht. Was würde ich denn darunter verstehen?

 

Das doppelte Gesicht

Ich will mit einem kleinen Bild anfangen, mit einer kleinen Geschichte, einer Legende: Von Elisabeth von Thüringen wird berichtet, dass sie einmal in einem Unwetter ein Kind auf einem Holzstoß sitzend fand, das sie mit den Augen ansah, aus denen die Trauer der ganzen Welt sprach. Und sie fragte das Kind: "Kind, wo ist deine Mutter?" Es heißt, in der Nacht erschien ihr Christus am Kreuze und er sah sie an mit den Augen des Kindes. Das ist eine Legende. Eine Legende heißt nicht nur eine erfundene Geschichte, eine erdichtete Geschichte, sondern eine Legende ist auch eine Lesart, eine Lesart des Lebens. So muss man das Leben lesen, d.h. die Augen Christi erkennen in den Augen des gequälten Kindes, in der vergewaltigten Frau, in dem Mann, der sich tot arbeiten muss und nicht verdient, was er zu verdienen hat. Vielleicht ist Christus in dieser Weise wirklich ein spiritueller Mensch gewesen, weil er die Armen "lesen" konnte, weil er das Glück lesen konnte, weil er die Nöte der Menschen lesen konnte. Die Augen Christi erkennen in den Augen dieses gequälten Kindes, das doppelte Gesicht, das Gesicht des Armen und das Gesicht Christi, das Gesicht des Gequälten und das Gesicht Christi. Das wäre eine spirituelle Lesart der Welt.

Ich nenne eine andere kleine Geschichte, eine meiner Lieblingsgeschichten von Franz von Assisi (jeden Abend muss eine Franziskus-Geschichte vorkommen, sonst geht der Tag nicht gut zu Ende): Von Franz wird erzählt, dass er angefangen hat, in allen Dingen Gott zu lieben. Und er kam zu einer Quelle und sagte: "Schwester Quelle, erzähle mir von Gott." Und die Quelle sprudelte auf, als ob sie reden wollte. Und dann wurde sie still, und er sah auf dem Grund der Quelle das Gesicht der Klara, der Frau, der er in Freundschaft und Liebe verbunden war. Er ging weiter und kam zu einem Mandelbäumchen und sagte: "Mandelbaum, erzähle mir von Gott." Und der wurde aufgeregt und fing an zu Unzeiten zu blühen und er erzählte auf diese Weise von Gott mit seiner Stimme. Und er kam zu einem alten Mann und sagte ihm: "Alter, erzähle mir von Gott." Und der Alte nahm in mit in eine Stadt in das Quartier der Armen, wo die Kinder der Armen spielten und die Menschen ihre Wäsche wuschen. Und der Alte teilte Brot aus, und die Menschen teilten das Brot weiter unter sich. Und der Alte sagte: "Unser Brot, unser Vater." Das ist eine andere Doppeldeutigkeit, ein anderes Mal ein zweites Gesicht. Er fragt nach der Erzählung über Gott und er sieht das Gesicht der Frau, der er in Liebe verbunden war. Er sagt: "Mandelbäumchen, erzähle mir von Gott." Und er spricht seine Sprache, die er hören kann, die Franziskus lesen kann. Und der Alte, zweideutig: "Unser Brot, unser Vater." Also der Vater, der dort vorkommt, wo Menschen das Brot miteinander teilen. Das zweite Gesicht der Dinge - es ist eine Voraussetzung dazu, dass Franz Wasser, Mandelbaum, Menschen nicht als Dinge sieht, dass er den Mandelbaum nicht nur als fruchtbringenden Baum, verkäufliche Früchte tragend, sieht, dass er das Wasser nicht nur als Wasserstraße, als Benutzbares sieht. Er lässt den Dingen die Sprache. Sie sind für sich zunächst da, das Wasser, der Baum, die Natur, die Nacht, der Tag. Sie sind für sich da und für Gott da, den sie loben.

 

Der Anfang aller Spiritualität ist Herrschaftsfreiheit

Mit dem zweiten Beispiel wollte ich sagen, dass es so etwas wie einen Vorraum der Spiritualität gibt, nämlich die Art, wie wir mit den Dingen umgehen. Zunächst entscheidet sich, ob wir spirituelle Menschen sind, nicht daran, dass wir gekonnt Gebete aufsagen, sondern daran, wie wir mit dem Leben umgehen. Der Anfang aller Spiritualität ist Herrschaftsfreiheit: nicht zu herrschen über das Wasser, nicht zu herrschen über die Atemluft der Kinder, nicht zu herrschen über Tag und Nacht, der Zeit ihren Rhythmus zu lassen. Der Anfang aller Spiritualität ist Herrschaftsfreiheit. Ich glaube, dass das ein wesentlicher Punkt der Erschwerung unserer eigenen Frömmigkeit, unserer eigenen Spiritualität ist, wenn wir allen Dingen, allen Kreaturen, den Tieren, vielleicht auch Menschen gegenübertreten mit der Pose des Siegers, dann können sie uns nicht zum Leben verhelfen. Dann haben sie kein zweites Gesicht mehr, dann haben sie keine Stimme mehr, dann wird der Trost der Dinge unhörbar, der Trost des Tages, der Nacht, des Morgengrauens, des Sonnenaufgangs, des Windes wird unhörbar.

Eine meiner Lieblingsstellen steht bei Christa Wolf. Sie sagt: "Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen." Und die Kassandra, die Seherin, die diesen Satz sagt, fügt hinzu: "Ich habe noch keinen Menschen gekannt, der aufhören konnte zu siegen. Aber vielleicht gibt es einmal eine Zeit, wo Menschen ihre Siege in Leben verwandeln können."

Das erste: Die richtige Legende, die richtige Lesart des Lebens haben. Bei Helder Camara gibt es ein schönes kleines Gedicht über die hungrigen Kinder seines Landes: Wenn ich sie sehe, diese Kinder mit aufgeblähten Bäuchen, mit Köpfen groß und schwer, als ob er es sei. Es ist Christus, den ich sehe. Wie bei Elisabeth - die richtige Legende haben heißt, die richtige Lesart des Lebens und der Dinge zu haben. Es ist vielleicht der erste Grund, der eigentliche Grund von Spiritualität.

 

Spiritualität von unten

Ich würde jeder Spiritualität misstrauen, die erfahrungssüchtig ist, jeder Spiritualität, in der das Subjekt sich selbst steigern könnte, und sei es bis in die Höhe des Himmels oder in die eigenen Tiefen herabsteigen und sonst nichts finden will als sich selbst. Es gibt so etwas wie eine narzisstische Spiritualität, die in dieser Tradition keinen Platz hat. So dem Leben gegenüber zu treten, also das Leben von unten zu sehen, von den Beleidigten, von den Armen, von den Nackten, von den Gefangenen, das hieße eine Spiritualität, in der das Leben selber lesbar wird.

Ich möchte ihnen einige Sätze aus Jesaja 58, dem wunderschönen Kapitel, vorlesen. Es geht dort um das rechte Fasten. Und der Prophet lehnt das falsche Fasten ab und sagt: "Brich dem Hungrigen dein Brot. Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast. Lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast. Gib frei, die du bedrückt hast. Brich dem Hungrigen dein Brot. Führe die Elenden ohne Obdach in dein Haus. Wenn du einen Nackten siehst, so kleide ihn und entziehe dich nicht deinem Fleisch." Das sind merkwürdige Identitätsaussagen: "Dann wird ein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte. Heilung wird sprossen. Die Gerechtigkeit wird vor dir hergehen. Wenn du rufst, wirst du gehört. Und ich antworte - Gott antwortet -: Siehe, hier bin ich. Du wirst einen Namen haben. Du wirst benannt werden, der die Risse vermauert und die Wege wieder gangbar macht."

Wir leben in einer merkwürdigen Zeit, in der alles nach Werten schreit, neuerdings auch nach Tradition und nach Werten und ich weiß nicht was, als sei die Zeit dadurch heilbar. Ich glaube, der Wert einer Zeit liegt zunächst einmal darin, dass der Nackte bekleidet, dass der Bettler nicht vertrieben wird, dass der Hungrige gespeist wird. Der Wert des Lebens liegt nicht in Sätzen über das Leben, sondern in der Einsichtigkeit des Lebens für alle. Wenn das Leben für alle einsichtig ist, dann lebt man in einem Land, dessen Sprache man lieben kann, in einem Land, das bewohnbar geworden ist für alle. Das meint der Prophet mit diesen Sätzen: Dann wird ein Licht hervorbrechen - Licht als eine Identitätsaussage, also nicht im Dunkeln gehen, im Lebensdunkel. Du wirst gehört werden, deine Schreie gehen nicht echolos ins Nichts. Du wirst einen Namen haben - eine Grundaussage ist der Name, d.h. man wird kenntlich sein für sich selbst und man wird kenntlich vor anderen.

 

Die Kraft der Erinnerung

Wovon lebt diese Art von Spiritualität, wovon lebt diese Art Legende? Ich glaube, dass sie eine Ernährung braucht. In Ihrer Einführung haben Sie die Geschichte des Politischen Nachtgebetes angedeutet, die Geschichte der "kritischen" Leute. Ich glaube, dass wir damals weithin versäumt haben, uns zu ernähren. Wir dachten, wir könnten aus dem Stand gerecht sein, wir könnten aus dem Stand langfristig sein, wir könnten aus dem Stand ein Gewissen haben. Und deswegen sind so viele ermattet, weil sie mit sich selbst auskommen mussten, nicht mehr zum Essen hatten als das eigene Fett. Darum sind so viele entweder in die Weinerlichkeit abgesunken oder in die psychologische Selbstpflege oder wohin auch immer. Was ist die Nahrung? Ich glaube, die Nahrung dieser Spiritualität ist zunächst die Erinnerung.

Ich möchte zur Abwechslung eine kleine amerikanische Geschichte erzählen: Sie kennen bestimmt Joe Hill. Joe Hill war ein amerikanischer Arbeiterführer, der am Anfang des vergangenen Jahrhunderts die diversen rechtlosen Arbeiter organisiert hatte, dass sie ihren Lohn verlangen könnten. Er wurde in einem zweifelhaften Prozess hingerichtet. Er hatte verfügt, dass seine Leiche verbrannt würde und dass die Asche in allen Staaten der USA ausgestreut würde, nur nicht in Utah, wo er ermordet wurde. Da sollte er nicht tot gefunden werden. Das ist eigentlich eine Auferstehungsgeschichte. Und bald gab es ein sehr schönes Lied: "I dreamt I saw Joe Hill last night". - "Ich habe letzte Nacht geträumt, ich sehe Joe Hill, so lebendig wie Du und ich. Und ich sag zu ihm: Joe, du bist doch schon lange tot. Und er sagt: Nein, ich lebe. Er stand lachend vor dem Bett des Träumers: Ich lebe. Und was sie vergessen haben zu töten, das geht rum und organisiert die Arbeiter."

Ich frage mich, was hier ein Mensch macht, der Sänger und alle, die dieses Lied singen. Sie haben eine Erinnerung an einen Menschen, der umgebracht wurde. Es ist die Erinnerung an die Passion. Alle große Erinnerung ist zunächst Erinnerung an Passion, an das, was Menschen angetan wurde, das, was Menschen nicht gelungen ist in ihrem Leben und was sie erleiden mussten. Sie haben eine langfristige Erinnerung, und sie haben die Erinnerung nicht nur an das Nicht-Gelingen dieses Lebens, den Tod, sondern es ist ja auch eine Erinnerung an das Gelingen, an die Arbeit dieses Menschen. Und sie sind nicht mehr allein, die Menschen, die dieses Lied kennen, die dieses Lied singen.

Ich nenne eine andere Geschichte. Ich habe auf meinem Schreibtisch seit langem ein kleines Foto stehen, aus der Zeitung ausgeschnitten. Ein Foto von Hans Litten. Ich vermute, dass niemand mehr diesen Namen kennt. Hans Litten war ein Rechtsanwalt am Anfang der Nazizeit, Ende der 20er Jahre. Er hat Sozialisten verteidigt gegen die Nazis sehr oft in diesen Prozessen. Und er kam bald ins KZ. Gelegentlich mussten die Gefangenen etwas aufführen, und bei einer Aufführung sollte auch er etwas beitragen, er, dem sie ein Bein lahm geschlagen hatten, auf einem Ohr war er taub, er hat das Gedicht aufgesagt: "Die Gedanken sind frei. Und sperrt man mich in einen finsteren Kerker - ich bleibe dabei, die Gedanken sind frei."

Das ist eine Erinnerung an einen Menschen mit Würde in würdelosen Zeiten an einem barbarischen Ort. Wenn ich eine solche Erinnerung habe, muss ich nicht nur ich selbst sein. Ich werde langfristig in meinen Lebensvisionen, ich werde ein gebildeter Träumer mit solchen Erinnerungen. Ich werde ein Mensch mit Gewissen. Ich mute mir die Würde zu, ich zu erinnern an das Gelingen des Lebens von anderen, an die Schmerzen der anderen, und vielleicht auch die Würde, an die Erinnerung der Schuld.

Die Texte, die wir haben, die Geschichten, die wir haben, die Legenden, die wir haben, das sind große Freiheiten. Wir schreiben unsere Wünsche, unsere Visionen in diese alten Texte ein. Jedes Mal wenn ich diese Geschichte von Elisabeth höre mit dem Kind, von Joe Hill oder von Hans Litten, dann bilde ich mich. Es ist eigentlich ein Bildungsvorgang. Ich mache mich langfristig. Ich weiß, ich muss nicht der erste und ich muss nicht der Letzte sein.

Eine Tradition haben heißt nicht, einen Haufen von Dingen durch die Gegend schleppen, sondern ein Freigeist zu sein mit einer langfristigen Erinnerung. Eine Tradition haben heißt, an die Stelle der Toten zu treten, nicht nur um ihre Aufgaben zu übernehmen, sondern auch um einzutreten in ihren Lebensmut, in ihre Lebenshoffnungen, in ihr Lebensgelingen. Ich bin nicht allein.

Ich glaube, dass man Zukunft erst denken kann - und das heißt: für die Enkel sorgen kann -, wenn man eine Erinnerung hat, also, wenn man weiß, wer die Großväter und die Großmütter waren, nicht nur die leiblichen. Zur Humanität gehört es, für die Kinder und die Enkel zu sorgen und die Namen der Großeltern zu kennen - im übertragenen und im wörtlichen Sinne. D.h. die Schicksale der Großeltern, unserer Väter und unserer Mütter im Glauben und in der Arbeit zu kennen.

 

Spiritualität als Aufmerksamkeit

Und manchmal hat die Linke dies in der Tat vergessen. Wir waren zu funktionalistisch in vielen Punkten, wir wollten kämpfen, wir wollten etwas unternehmen, aber wir haben die nötigen Umwege gescheut, die nötigen Umwege über das Gebet, über die Geschichten, über die Poesie. Und wir haben die Vorwegnahme gescheut, wir wollten kämpfen ohne Wein zu trinken. Wir wollten kämpfen ohne das Leben schon zu genießen. Wenn man ein aufmerksamer Mensch ist - Spiritualität würde ich am liebsten mit Aufmerksamkeit übersetzen, geformte Aufmerksamkeit -, aufmerksam auf das Glück, auf die Leiden der Menschen, dann ist man ein Hiesiger, also einer, der schon das Glück vorwegnehmen kann, der schon Freundschaft genießen kann, der schon das Lebensgelingen preisen kann. Und man ist ein Gestriger mit einer langen Erinnerung, mit einer langen Herkunft. Man ist also nicht nur ein Hiesiger, nicht nur in das Gefängnis der Heutigkeit eingesperrt. Und man ist ein Morgiger, also einer mit großen Erwartungen und einer, der weiß, dass er etwas vermissen kann.

Ein spiritueller Mensch sein heißt etwas feiern können und etwas vermissen können: Das Augenlicht der Blinden vermissen können, den Tanz der Lahmen vermissen können und den Gesang der stumm Gemachten vermissen können.

Die Geschichten führen uns ein, sie bilden unser Gewissen. Ich frage mich, wie das eigentlich ist in der Großkirche. Ist es eigentlich ein Wunder, dass die softe Spiritualität da eher Konjunktur hat? Ist diese Großkirche überhaupt Kirche, könnte man fragen, wenn man an das Neue Testament und die Bestimmungsmerkmale von Kirche denkt. Sie waren zusammen, sie waren einmütig im Gebet, sie hatten alles gemeinsam und es wurde jedem gegeben, wie er es brauchte. Was ist mit unserer Kirche, was ist mit der Volkskirche? Sie ist ein spiritueller Ort, ich will ihr das nicht ganz absprechen. Manchmal muss man etwas auch besser lesen, als es ist, damit man die Hoffnung nicht verliert. Aber wir haben es schwer mit und in dieser Volkskirche mit ihren Strukturen, die so sind wie die Strukturen von anderen Institutionen auch - dieselben Ausbildungsgänge, dieselben Gehaltsunterschiede, dieselben Förderungsmechanismen usw. (wie die Schule auch). Eine Großkirche, in der jeder Platz haben soll, der Waffenhersteller und der Friedensmensch, der Flussvernichter und der Ökomensch usw., jeder soll Platz haben. Ich bin ein Vertreter der Großkirche, ich bin nicht Vertreter der kleinen reinen Gruppe - das war übrigens ein Unterschied zu meiner Frau (Dorothee Sölle), da haben wir uns immer gestritten - weil ich die Öffentlichkeit will. Aber ich kann mir die Großkirche nur denken, wenn es in dieser Großkirche Gruppen von unten gibt, spirituelle Gruppen wie ihr hier, Brot & Rosen, oder andere, Ökogruppen, Frauengruppen, auch Gruppen mit speziellen Gebetsabsichten, spirituellen Absichten im engeren Sinn des Wortes. Die Großkirche gesundet, sie steht und fällt mit der Lebendigkeit der Gruppen, die in ihr wuseln und die gegen sie stehen unter Umständen. Die Gruppen sind der Ort der pointierten Wahrheiten, der Wahrheiten für die Armen, für die Kranken, für das Recht, den Frieden, für die Erhaltung der Natur.

 

Streit um die Wahrheit

Es wäre gut, um sich der eigenen Hoffnung nicht zu berauben, wenn man nicht zuviel von Kirchenleitungen erwartet. Kirchenleitungen sind immer Gebildete mittleren Geistes. Das ist gar nicht boshaft gemeint, das ist einfach institutionssoziologisch gesagt. Sie sollen etwas zusammenhalten, was schwer zusammenzuhalten ist. Das ist ja auch eine würdige Funktion, wenn die Großkirche weiß, dass nicht die Einheit freimacht, sondern die Wahrheit. Das heißt, wenn sie den Gruppen ihre Wahrheit lässt. Selbst wenn die Großkirche nicht ist wie diese Gruppen, könnte sie sie dennoch dulden. Sie könnte die Friedensgruppe, die Flüchtlingsgruppe, die Kirchenasylgruppe oder was auch anliegt, sie könnte sie alle dulden, wenn sie auch Ächzen duldet. Sie könnte sie dulden, und der Streit unter diesen Gruppen, der Streit in der Kirche, ist die Form, wie die Wahrheit lebendig bleibt. Wenn wir streiten können - das ist bei Protestanten natürlich ein Urproblem, dass sie nicht streiten können, weil jeder sein kleiner Papst ist -, aber wenn wir streiten könnten, d.h. wiederum wenn wir spirituelle Menschen werden, wenn wir z.B. unsere Bibel kennten und so stritten, dass wir irgendwo herkommen im Streit. Denn dieses alte Buch, diese alte Lehrerin erlaubt nicht, dass wir in alle Richtungen gehen. Sie gibt uns schon etwas vor. Wenn wir das könnten, dann wäre der Streit nicht etwas Beklagenswertes, wie es oft scheint, etwas, das man unter allen Umständen vermeiden, unter dem Tisch halten muss, sondern ein Mittel, um die Wahrheit zu fördern.

Als die Grünen noch lebendig waren, haben sie ja viel gestritten. Und die anderen Parteien haben beinahe hämisch gesagt, guckt doch, was mit denen los ist, wie sie streiten. Das ist, glaube ich, eine falsche Beurteilung. Die Auseinandersetzung um die Wahrheit ist einfach das Zeichen der Lebendigkeit einer Gruppe, die Gruppe als pointierte Vertreterin einer Wahrheit.

 

Ordnung und Gnade

Ich möchte schließen mit einem Gedanken: Wenn ich Spiritualität nicht nur als Frömmigkeitstechnik sehe - das ist es übrigens auch, Spiritualität hat auch etwas mit Technik zu tun, hat etwas damit zu tun, dass ich Zeiten einhalte, dass ich Rhythmen einhalte, Orte beachte, dass ich bete, auch wenn es mir nicht nach Beten zumute ist, dass ich Ordnungen einhalte. Die Ordnungen sind die Hilfsmittel des Herzens. Das Herz ist schwach und braucht seine Gehhilfen. Und solch eine Gehhilfe ist etwa die Ordnung, die ich mir gegeben hatte. Wir sind ja nicht mehr unter Ordnungen gebannt, wir haben sie uns gegeben, also Abmachungen, die ich mit mir selber getroffen habe und die mich befähigen, mich von meiner eigenen Zwielichtigkeit zu entfernen, mich weiter zu machen, als ich bin. Das ist schon der Sinn der Ordnung. Es kommt beim Beten nicht darauf an, dass man etwas erfährt, dass der Heilige Josef erscheint oder sonst jemand, es kommt darauf an, dass man pünktlich ist! Das ist dreimal so viel wert als die Erscheinung des Heiligen Josef. Es gibt Ordnungen der Spiritualität, die man nicht ohne weiteres verletzen darf.

Aber ich würde doch eines nennen, was ich am liebsten abschließend mit diesem großen Wort Spiritualität in Verbindung bringen wollte, das ist der Begriff Gnade. Lassen Sie mich das verdeutlichen an einem kleinen Text, den ich sehr oft zitiere, einer meiner Lieblingstexte, von der chilenischen Dichterin Gabriela Mistral. "Scham" heißt das Gedicht, ein Liebesgedicht.

 

Wenn du mich anblickst, werd' ich schön,

schön wie das Riedgras unterm Tau.

Wenn ich zum Fluss hinuntersteige,

erkennt das hohe Schilf mein sel'ges Angesicht nicht mehr.

Ich schäme mich des tristen Munds,

der Stimme, der zerriss'nen, meiner rauhen Knie.

Jetzt, da du mich, herbeigeeilt, betrachtest, fand ich mich arm, fühlt' ich mich bloß.

Am Wege trafst du keinen Stein,

der nackter wäre in der Morgenröte

als ich, die Frau, auf die du deinen Blick geworfen,

da du sie singen hörtest.

Ich werde schweigen. Keiner soll mein Glück

erschaun, der durch das Flachland schreitet,

den Glanz auf meiner plumpen Stirn nicht einer sehen,

das Zittern nicht von meiner Hand...

Die Nacht ist da. Aufs Riedgras fällt der Tau. Senk lange deinen Blick auf mich. Umhüll mich

zärtlich durch dein Wort.

Schon morgen wird, wenn sie zum Fluss hinuntersteigt,

die du geküsst, von Schönheit strahlen.

 

Ein Liebesgedicht, eine extrovertierte Geliebte, die ihren Mittelpunkt nicht in sich selber hat, die ihre Schönheit nicht in sich selber hat, die ihre Schönheit nicht erkennt, indem sie in den Spiegel schaut, sondern im Blick des Geliebten - "Wenn du mich anblickst, werd' ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau".

Also, jemand, die sich nicht nur bei sich selbst bergen muss, die sich nicht selbst rechtfertigen muss, die sich nicht selbst Vater und Mutter sein muss, sondern geborgen ist in dem Blick, mit dem sie angesehen ist. "Wenn du mich anblickst, werd' ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau." Ich glaube, das ist es, was wir Gnade nennen, nicht Meister seiner selbst sein müssen. In der Heiterkeit leben, dass man sein eigenes Leben nicht bezeugen muss, sondern der Geist gibt Zeugnis, dass wir Kinder Gottes sind. In der Heiterkeit auch Fragment sein können, auf halber Strecke bleiben zu können auch mit seiner Spiritualität, mit seinem Beten. Wir sind nicht spirituell, weil wir die Meistermechaniker der Spiritualität sind, sondern wie es in Römer 8 heißt, weil der Geist Zeugnis unserm Geist gibt, dass wir Kinder Gottes sind. Und wir wissen nicht, was wir beten sollen, heißt es, sondern der Geist tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen. Nicht man selbst sein müssen, nicht in sich selbst gebannt sein müssen. Im Geist sein oder der Geist in uns, das ist, glaube ich, der eigentliche Punkt der Lebensheiterkeit und der Lebensfreiheit. Diesem Begriff Gnade ist immer der Begriff Freiheit verbunden in der ganzen spirituellen Tradition, in der Frömmigkeitstradition.

Der Begriff Freiheit - ich glaube, wenn man weiß, dass wir geborgen sind in diesem Blick der Güte, kann man den Götzen widerstehen. Es gibt eine Frömmigkeit, die den Unglauben fördert, eine Frömmigkeit, die die Skepsis fördert, die die Götzen vertreibt. Ich glaube, je fester wir stehen in dieser Frömmigkeit, je fester wir sie üben - eigentlich wird sie geübt durch das Gebet -, um so stärker kann man ein Zersetzer im Dienst der Wahrheit sein, ein Mensch des Widerstands auch. Man braucht nicht an den Götzen zu glauben, nicht an den Götzen "Bild" oder den Götzen "Heterosexualität als Zwangsveranstaltung" oder man braucht nicht zu glauben, dass nur Männer die Messe lesen dürfen oder was auch immer. Man kann diesen Götzen widerstehen. Die frühen Christen wurden angeklagt der Gottlosigkeit. Ja, das ist richtig, sie haben den Götzen nicht mehr geopfert. Das kam aus ihrem Glauben.

 

Die Kraft der Schönheit

Lassen Sie mich mit einem letzten Gedanken schließen. Ich glaube, dass unsere Widerstandskraft, unsere Arbeitskraft, unsere Spiritualität auch davon abhängen, ob wir unsere eigenen Traditionen als Traditionen der Schönheit und der Freiheit empfinden können. Das finde ich immer so traurig, dass wir gelernt haben, wir müssen etwas glauben und für wahr halten usw., aber nicht gelernt haben, etwas für schön zu halten. Die Geschichten, die wir haben, diese kleine Legende der Elisabeth, das ist doch eine schöne Geschichte! Oder um noch eine kleine Franziskus-Geschichte anzuhängen: Er war einmal eingeladen bei einem Bischof zum Abendessen. Und er kam hin, und die Fürsten und die Prälaten und die Bischöfe und die Kardinäle waren da. Und der Tisch bog sich unter den Speisen und Getränken, und Franziskus ging nach Trastevere in das Armenviertel und hat sich erbettelt, was die Armen so haben, einen Strunk Gemüse, einen Kanten hartes Brot. Er kam in den Palast und hat den Fürsten und Bischöfen die Speisen der Armen gegeben. Und die Geschichte schließt mit dem schönen Satz: "Und so konnte das Brot der Prälaten mit dem Brot der Armen verglichen werden." Das ist nicht nur eine Geschichte, die uns moralisch aufrüstet, sondern eine Geschichte der Schönheit, die durch das Christentum flattert wie ein nicht einzufangender Schmetterling. Wie lernen wir - das scheint mir die eigentlich spirituelle Aufgabe zu sein -, unsere Geschichte zu lesen als eine der Schönheit?

Ich hatte eine Schwester, sie ist schon tot, die war sehr schön als junges Mädchen. Das war meiner christkatholischen Mutter immer etwas unheimlich und sie sagte manchmal: "Mädchen, pass auf. Schönheit bleibt nicht ohne Folgen." Und das ist wahr! Ich glaube, was uns am meisten innerlich stark macht, mutig und widerstandsfähig macht, ist, unsere Geschichte als Würde-Geschichte zu lesen. Es ist zweitrangig, ob man alles glaubt oder nicht, aber sie als Würde-Geschichte, als Freiheitsgeschichte zu lesen, dann werden wir stark. Und so würden wir uns ernähren.

 

Ich danke Ihnen.



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