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Welche Gerechtigkeit für Piraten?

Yusuf Guul, Freund von Brot & Rosen, schildert bei der Veranstaltung „Klarmachen zum Kerkern? Piraten vor Gericht“ eindrücklich die Situation in Somalia

von Dietrich Gerstner / März 2012

In Hamburg stehen seit November 2010 zehn Somalier, darunter drei Jugendliche, vor dem Landgericht. Sie sind angeklagt, am 5. April 2010 das Containerschiff Taipan einer Hamburger Reederei mit Waffengewalt überfallen zu haben. Nun geht dieser erste „Piraten-Prozess“ seit 400 Jahren in Hamburg im Frühjahr voraussichtlich zu Ende. Aus diesem Anlass veranstaltete das Zentrum für Mission und Ökumene – Nordkirche weltweit am 6. März gemeinsam mit anderen Organisationen einen Informations- und Diskussionsabend.

Dieser Abend würde kontrovers werden, das sah ich schon bei der Betrachtung des Publikums in der Deutschen Seemannsmission: Neben Anhängern aus der antirassistischen Arbeit, Globalisierungskritikern und Engagierten in der Flüchtlingsarbeit, saßen Seeleute, Kapitäne und eine interessierte Öffentlichkeit. Es ging um Hintergrundinformationen über den ersten „Piraten-Prozess“ seit 400 Jahren in Deutschland, über den auch die überregionale Tagespresse seit Monaten berichtet. Seit November 2010 stehen zehn Somalier, darunter drei Jugendliche, vor dem Hamburger Landgericht. Sie sind angeklagt, am5. April 2010 das Containerschiff Taipan einer Hamburger Reederei mit Waffengewalt überfallen zu haben.

Die Position der Podiumsgäste war von vorneherein klar: Sie plädierten dafür, die Piraterie nicht losgelöst von der geopolitischen und  gesellschaftlichen Situation vor Ort zu betrachten. Anita Friedetzky, die als Prozessbeobachterin an fast allen bisher 79 Verhandlungstagen teilgenommen hat, und der Diplom-Psychologe und Menschenrechtsaktivist Reimer Dohrn vom Netzwerk „Kein Mensch ist illegal“ beschrieben die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Piraterie vor Somalia: Seit Jahrzehnten werden die Gewässer vor Somalia illegal befischt und in sie wird Giftmüll geleitet. Erst 2004 wurden in Folge des Tsunamis Giftfässer an Land gespült. Auch gibt es berechtigte Fragen zu den eigentlichen Absichten der EU-Militärmission Atalanta im geopolitisch enorm wichtigen Golf von Aden, durch den 80 % des Welthandels gefahren werden und der direkt an die ölreichen Regionen der Arabischen Halbinsel und des Sudans grenzt: Geht es hier wirklich nur um die Piraterie oder vielleicht eher darum, als EU militärisch Flagge zu zeigen und wirtschaftliche Interessen zu behaupten?

Der Seemannsdiakon Jan Oltmanns vom Seemannsclub Duckdalben im Hamburger Hafen verwies auf die traumatischen Auswirkungen der Piraterie auf Seeleute, die selbst meist aus armen Ländern des Südens stammen. Und Mustafa Horoun, Journalist aus Somalia, der als Flüchtling in Deutschland lebt, beschrieb die trostlose Lebenswirklichkeit der 10 Männer aus einem zerstörten Heimatland, das sich seit 1991 ohne zentrale Regierung in einem dauernden Bürgerkrieg befindet mit unzähligen Toten und über einer Million Flüchtlingen.

Während der Diskussion wurde deutlich, dass im Publikum manch einer mit der globalisierungskritischen und damit für die Piraten Verständnis suchenden Haltung des Podiums keineswegs einverstanden war. Im Gegenteil, bei Piraterie scheint direkt das Bauchgefühl angesprochen zu sein. So kochten die Emotionen schnell hoch: Piraten verdienen eine harte Strafe, die sollen froh sein, dass sie nicht sofort aufgeknüpft werden, so ein deutliches Votum eines Teilnehmers.

Für mich prallten an diesem Abend zwei Verständnisse von Gerechtigkeit aufeinander. Einerseits die „kleine“ Gerechtigkeit, die sagt: „Es ist Unrecht, wenn Piraten Seeleute bedrohen, berauben, schädigen. Die Seefahrt ist ohnehin schon ein lebensgefährliches Unternehmen. Darum darf es kein Verständnis für Piraten geben, und sie müssen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.“ Und andererseits die „große“ Gerechtigkeit: Für sie erscheint aus einer globalisierungskritischen Perspektive das Handeln der Piraten angesichts der seit über 20 Jahren zerrütteten Verhältnisse in Somalia sowie der von Raubfischerei und Verklappung von Giftmüll geprägten Situation vor Somalias Küste als eine Überlebensstrategie.

Aus meiner Sicht brauchen wir ein ungeteiltes Verständnis von Gerechtigkeit. Nur wenn wir das Bedürfnis nach direkter Gerechtigkeit im Kleinen verstehen und anerkennen, dürfen wir hoffen, dass wir auch für die Fragen einer umfassenderen Gerechtigkeit das notwendige Gehör finden. Denn, wie Jan Oltmans an diesem Abend zitierte: „Die Welt von morgen wird gerecht sein, oder sie wird nicht sein.“

Auch wenn ich nicht in allem den Analysen und Einschätzungen von Anita Friedetzky folgte, so habe ich doch größte Hochachtung vor ihrem unbezahlten Engagement in der Prozessbeobachtung, was für mich echte Menschenrechtsarbeit ist. Und ihr menschlicher Einsatz für die somalischen Gefangenen ist meines Erachtens vorbildlich und inspirierend. Regelmäßig gehen Anita Friedetzky, Marily Stroux und andere aus ihrer Gruppe ins Gefängnis, um die somalischen Männer und Jugendlichen zu besuchen. Lange Zeit taten sie dies als der einzige Kontakt zur hiesigen Außenwelt. Sie tun dies, um ihnen als Menschen zu begegnen, ihnen zuzuhören, sie nicht allein zu lassen. Sie tun dies ohne religiöse Motivation. Damit fordern sie auch Menschen aus den Kirchen heraus, es ihnen gleich zu tun, sagte doch Jesus von sich selbst (Bibel, Matthäusevangelium 25): „Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.“ Menschen im Gefängnis zu besuchen, unabhängig von der Frage, ob wir sie als schuldig oder unschuldig ansehen, gilt im christlichen Sinne als eines der sieben Werke der Barmherzigkeit. Und solche Begegnungen tragen das Versprechen in sich, dass sie die Menschen verändern – oftmals auf beiden Seiten: die BesucherInnen wie die Besuchten. Denn Gerechtigkeit ist niemals abstrakt, sondern geschieht im konkreten Miteinander.

Im Strafprozess vor dem Landgericht Hamburg geht es allerdings um juristische Fragen, deren Blickwinkel sich deutlich unterscheidet. Nachdem die Staatsanwaltschaft Ende Januar plädiert und Freiheitsstrafen zwischen vier und elfeinhalb Jahren wegen der Mittäterschaft beim erpresserischen Menschenraub und bei einem Angriff auf den Seeverkehr gefordert hatte, schien der Prozess zügig zu Ende zu gehen. Dann ließ es das Gericht jedoch zu, zum ersten Mal im Verlauf des gesamten Prozesses, zwei Entlastungszeugen der Verteidigung aus Indien zu hören. Das Verfahren sollte zweigeteilt werden, um es für diejenigen, die keine weitere Verteidigung mehr wünschten, und für die Jugendlichen abzuschließen. Für die restlichen fünf Angeklagten sollte der Prozess jedoch abgetrennt und weitergeführt werden. Am 78. Verhandlungstag, dem 29.2., legte jedoch einer der Angeklagten nochmals ein umfassendes Geständnis ab und belastete seine Mitangeklagten namentlich schwer. Damit ist der Fortgang des gesamten Verfahrens wieder offen und sein Ende nicht absehbar.

Dietrich Gerstner arbeitet seit 1.11.2011 als Referent für Menschenrechte und Migration beim Zentrum für Mission und Ökumene – Nordkirche weltweit in Hamburg



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