Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit
Gastfreundschaft für Flüchtlinge
Leben in Gemeinschaft
What is home? Palästinenser_innen in der Diaspora

Palästinensische Frau im libanesischen Flüchtlingslager. Sie ist noch in Palästina geboren.

von Marvin Lüdemann / März 2010

Marvin Lüdemann verbrachte ein Jahr in der israelisch-arabischen Friedenssiedlung Neve Shalom / Wahat al-Salam. Danach reiste er durch Jordanien, Syrien und Libanon und besuchte dort palästinensische Flüchtlingslager. Am 9.2. gestaltete er dazu einen spannenden Offenen Abend – hier ein Auszug aus seinem Bericht.

Das Jahr 1948 ist für israelische Staatsbürger_innen und für Juden und Jüdinnen weltweit mit der Staatsgründung Israels verbunden. Die Palästinenser_innen bezeichnen dasselbe Ereignis als die „Nakba“, die große Katastrophe, wurde doch damals ein großer Teil der palästinensischen Bevölkerung aus ihrer Heimat vertrieben. Heutzutage leben außerhalb Palästinas viele Palästinenser_innen in Flüchtlingslagern in den Nachbarstaaten Libanon, Syrien und Jordanien. Einige leben in Ägypten, einige im Irak und nicht wenige emigrierten nach Europa und in die USA.

Wiederholte Flucht

Viele Palästinenser_innen, die 1948 zu Flüchtlingen wurden, erlitten das Drama der Flucht zum wiederholten Male im Jahr 1967. So fand das Gros der 48er Flüchtlinge Unterschlupf in Gaza, dem Westjordanland und den syrischen Golanhöhen. Durch den 6-Tage-Krieg von 1967 wurden diese Gebiete wiederum zu Kriegsschauplätzen, und so ging die Flucht für viele weiter. Diejenigen, die im Golan Unterschlupf fanden, wurden in Richtung des syrischen Kernlandes oder in den Libanon vertrieben. Diejenigen aus dem Westjordanland flohen entweder innerhalb des Landes oder verließen es in Richtung Jordanien.

Sie flohen also wiederum in Länder, die politisch instabil und, gerade im Falle des Libanon, von Kriegen und Krisen regelmäßig heimgesucht wurden. Somit wurden die Palästinenser_innen im Libanon eine der Kriegsparteien im Bürgerkrieg, der im Land 15 Jahre, bis 1990, tobte. Jüngst brach ein Krieg im Nahr al Bared Flüchtlingslager aus, in dem die Palästinenser_innen zwar weitestgehend nicht aktiv mitwirkten, doch trotzdem die Leidtragenden waren. Nicht zu vergessen sind natürlich die israelischen Invasionen im Libanon 1982 und 2006, mit besonderem Augenmerk auf die Massaker in Sabra und Shatila, bei dem die Falangisten (maronitische Christen), vermeintlich unter israelischem Befehl, fast die gesamte Lagerbevölkerung niedermetzelten und exekutierten. Somit sah sich ein großer Teil der Flüchtlinge im Libanon, die aufgrund all dieser Konflikte zum Verlassen ihrer Lager und Häuser gezwungen waren, in der Rolle des ewigen Flüchtlings gefangen. Ein ähnliches Schicksal traf diejenigen, die im Irak unterkamen. Sie verloren in dem auf die amerikanische Invasion folgenden Bürgerkrieg ihr Hab und Gut. Darum entschlossen sich viele, weiter in Richtung Syrien zu fliehen. Da Syrien sich anhaltend weigert, sie aufzunehmen, sind einige Tausend Palästinenser_innen heute in provisorischen Zeltlagern an der syrisch-irakischen Grenze gefangen.

Die drinnen und die draußen – gesellschaftliche Ausgrenzung.

Während die Palästinenser_innen in Jordanien größtenteils in die jordanische Gesellschaft integriert sind und sich heute oftmals als Jordanier_innen mit palästinensischen Wurzeln identifizieren, leben die meisten Palästinenser_innen in Syrien und dem Libanon in Flüchtlingslagern. Diese Lager haben nichts mehr mit den ursprünglichen Zeltstädten zu tun, aus denen sie entstanden sind. Teilweise wirken sie heute wie Stadtteile oder eigenständige Orte außerhalb von gewöhnlichen Städten. Trotzdem bedeutet das Leben im Lager eine gewisse Abgrenzung.

In Syrien geschieht dies beidseitig wohlwollend. Die Palästinenser_innen sind dankbar für alle Rechte und Aufgaben, die ihnen in der syrischen Gesellschaft zu kommen. Gleichzeitig geniessen sie jedoch die innerpalästinensische Solidarität in ihren (temporären) Enklaven und fühlen sich durch den Zusammenhalt vor Ort zunehmend darin bestärkt eines Tages gemeinsam zurückzukehren. Das syrische Regime unterstützt diese Haltung voll und ganz und bestärkt sie durch gesonderte gesellschaftliche Pflichten: Zum Beispiel existiert innerhalb der syrischen Armee die palästinensische Kompanie, deren Aufgabe weniger die Verteidigung Syriens, als die „Befreiung“ Palästinas sein soll...

Die Situation im Libanon ist grundlegend anders. Den Palästinenser_innen wird jegliche Gelegenheit, am gesellschaftlichen Leben des Libanon teilzunehmen, versagt. Sie sind faktisch in den Lagern eingesperrt, sie profitieren nicht von dem öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen, und es existiert ein Berufsverbot für Palästinenser_innen in mehr als 70, hauptsächlich akademischen, Branchen.

Die Argumentationslinie der meisten libanesischen Fraktionen betont, dass die Palästinenser_innen sich nur temporär im Land aufhalten und durch die versagte Integration in ihrem Willen zur „Befreiung“ Palästinas und zur Rückkehr bestärkt werden. Die Palästinenser_innen hingegen fühlen sich von der libanesischen Elite schlichtweg im Stich gelassen und begreifen die erfahrene Ausgrenzung als Anfeindung. Somit unterscheidet sich das Lagerleben in Syrien und dem Libanon hauptsächlich durch den Grad der Abgrenzung zur Peripherie. Die große Solidarität untereinander, basierend auf dem gemeinsamen Wunsch der Rückkehr nach Palästina, ist die gleiche.

Ein Leben im Lager

Wer in einem palästinensischen Flüchtlingslager in der Diaspora aufwächst, hat keinen greifbaren Bezug zu dem, was einem als Heimat verkauft wird. Die Generation derjenigen, die Palästina noch mit ihren eigenen Augen sahen und bei der Flucht mit ihren Tränen bedeckten, stirbt. Was bleibt sind Symbole und Geschichten. So findet man in jedem Haus und an unzähligen Hauswänden ein Bild des Felsendoms – das Wahrzeichen Jerusalems und der ganze Stolz palästinensischer Identität.

In Schulen und Jugendzentren steht die Auseinandersetzung mit Palästina, der „Nakba“ und dem alltäglichen Schicksal der Palästinenser_innen im Vordergrund. Die Erzählungen derjenigen, die im Land geboren wurden, werden mit großem Interesse verfolgt.

Somit wird eine Art kollektives Palästina in den Köpfen vor Ort kreiert. Jedem ist das Ziel so vertraut, und man ist sich doch der Ferne dessen bewusst. Politische Diskurse sind von Entsetzen über die Grausamkeit der israelischen Militärmaschinerie und Müdigkeit von der Auseinandersetzung damit durchsetzt. Jeder träumt von der Rückkehr, doch kaum einer glaubt daran. Und tatsächlich bleibt sie ein abstraktes Konstrukt in den Köpfen, das über die Vorstellungskraft der meisten hinausgeht.

Palästina ist eine romantische Idee, ein idealisierter Ort mit unbeschreiblichem Wert, während das alltägliche Camp der schmutzige Vorort dessen ist. Ein Slogan der palästinensischen Flüchtlinge ist „Vom Camp nach Palästina“. Gemeint ist, dass sie keinerlei Umsiedlungen wollen, sollten diese sie nicht direkt nach Palästina bringen, gleichzeitig schwingt in diesem Spruch eine Idee von Nähe zwischen dem Lager und Palästina mit – nichts steht (im idealen Falle) zwischen ihnen. Außerdem wird deutlich, wie sehr sich die Bewohner_innen mit dem Camp identifizieren. Und es klingt ein gewisser Heimatbegriff, der auch für das Camp gilt, mit.

Man hat sich mit dem Leben im Camp und der eigenen  Identität als Palästinenser_in und als Flüchtling arrangiert. Das Lager ist das zu Hause und Palästina bleibt die abstrakte Idee von Heimat. Im Bourj al Barajne-Flüchtlingslager nahe Beirut formulierte es jemand so: „How can we combine the camp, which is our life, with our village in Palestine, which is our right?”

Marvin Lüdemann, www.actionsandwords.wordpress.com



Mittragen

Unsere Gastfreundschaft für obdachlose Flücht­linge wird erst mög­lich durch Spenden und ehren­amtliche Mitarbeit
weiter...

Mitfeiern

Hausgottesdienste, Offene Abende und immer wieder mal ein Fest: Herzlich will­kommen bei uns im Haus der Gast­freund­schaft
weiter...

Mitbekommen

Möchten Sie regel­mäßig von uns hören und mit­bekommen, was pas­siert? Abonnieren Sie am besten unseren kosten­losen Rundbrief
weiter...

Mitleben

Immer wieder fragen uns interessierte Menschen, ob und wann sie uns be­suchen kommen können. Wir freuen uns sehr über dieses Inter­esse.
weiter...