Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit
Gastfreundschaft für Flüchtlinge
Leben in Gemeinschaft
Für dich ist es nur eine Geschichte, für mich ist es mein Leben

Holzskulptur auf dem Gelände der Woltersburger Mühle, Uelzen

von Dietrich Gerstner / November2020

Der folgende Artikel wird in der Zeitschrift „weltbewegt“ des Zentrums für Mission und Ökumene zum Thema „Storytelling“ in ähnlicher Form abgedruckt.

Seit 24 Jahren lebe ich in Hamburg bei Brot & Rosen in unserem „Haus der Gastfreundschaft“ gemeinsam mit Menschen, die als Migrant*innen oder Geflüchtete in diese Stadt kamen. Selbst nach so vielen Jahren des Lebens mit weit über 300 Menschen aus mehr als 60 Ländern, die auf dem Globus so weit auseinander liegen wie Sri Lanka, Togo, Honduras, USA oder Deutschland, kommt keine langweilige „Routine“ auf. Denn ich lebe mit konkreten Menschen mit ihren unverwechselbaren, persönlichen, stets neuen Geschichten. Wir teilen den Alltag und damit selbstverständlich auch die Höhen und Tiefen des Lebens. Mal feiern wir Feste, singen gemeinsam inbrünstig Fußball-Fangesänge, lachen laut und herzlich. Ein anderes Mal nehmen wir an der Trauer der Anderen Anteil, beten füreinander, versuchen die Last des Exils mitzutragen. Wir erfahren von den Themen rund um Flucht, Asyl und Ankommen im neuen Land durch persönliche Gespräche, durch die Geschichten unserer Mitbewohner*innen. Und ich weiß es zutiefst zu schätzen, wenn sich ein*e Mitbewohner*in mir anvertraut und von ihrem (Über-)Leben auf der Flucht erzählt, von der Sorge um die Familie, von der Freude des Sich-Wieder-Findens, von dem Glauben, der sie durch alles getragen hat.

Diesen persönlichen Aspekt der Nähe und des Sich-Kennenlernens über kulturelle, religiöse und sprachliche Grenzen hinweg schätzen auch unsere Besucher*innen. Und wir erzählen davon bei Veranstaltungen oder in unserem Rundbrief und hoffen, dass unsere Leser*innen unser „Haus der Gastfreundschaft“ durch ihre Spenden mittragen.

Diesen Schatz an mitgeteilten Geschichten bringe ich auch in meine Arbeit als Referent für Menschenrechte und Migration im Zentrum für Mission und Ökumene ein. So auch in die Seminararbeit mit jungen Erwachsenen nach ihrer Rückkehr von einem Auslandsaufenthalt. Die jungen Leute suchen die authentische Begegnung, sie wollen nicht „über“ etwas reden, sondern am liebsten „mit“ – den Betroffenen, also den Geflüchteten, mit denjenigen, die „Thema“ im Seminar sind. Und so klären wir nicht nur Begriffe wie „Sicherer Drittstaat“ oder „Dublin-Übereinkommen“ und referieren Flucht-Statistiken, sondern wir laden einen geflüchteten Filmemacher als Referenten ein und machen Besuche bei einer Migrant*innen-Selbstorganisation und eben auch in meinem Zuhause. Denn dort kann Begegnung stattfinden. Wirklich?

Als ich dieses Jahr im August eine Mitbewohnerin aus Lateinamerika bat, beim Besuch der jungen Leute dabei zu sein, war sie total offen dafür und freute sich sogar. Denn für sie war es eine Gelegenheit, von ihrem Aktivismus für die Rechte von „LGBTIQ*“-Menschen in ihrer Heimat und auch hier zu erzählen. Für sie war es ein Moment des „Empowerment“, eine Situation, die zeigt dass sie stark ist und tatsächlich überlebt hat und weiter kämpft für die Rechte von Anderen wie auch für ihre eigenen. (siehe ihre Geschichte in B&R-Rundbrief 92, Sommer 2019).

Als ich einen anderen Mitbewohner aus Syrien fragte, ob er wieder, wie im letzten Jahr, „dabei“ wäre, schaute er mich an, zögerte eine Weile und sagte dann: „Lieber nicht. Weißt Du, für dich ist es nur eine Geschichte, für mich ist es mein Leben…“ Und dann schwieg er und lächelte etwas schief, denn es war klar, dass er mir eigentlich gerne einen Gefallen getan hätte. Aber nicht diesen, denn: „Dann kommen wieder die Erinnerungen hoch. Dann kann ich nicht gut schlafen. Das macht mich echt fertig, immer noch in dieser Geschichte drin zu stecken.“ Seine Flucht liegt Jahre zurück und doch ist er noch nicht richtig hier angekommen, da ihn die Fallstricke des europäischen Asylsystems immer wieder in die Tiefe zogen. Und so ist er es mittlerweile leid, ständig an die Vergangenheit seiner Flucht erinnert zu werden, er will nach vorne schauen, endlich ein neues Leben beginnen. Es hat auch einen hohen Preis, eine schwere Geschichte mit anderen zu teilen, wenn sich für dich dadurch nichts zum Besseren ändert.

Am ersten Abend des Seminars schauten wir den Film #MyEscape, zusammen mit einem der Protagonist*innen des Films, Ziko. Er ist Musiker, Filmemacher, Theatermensch und und vieles mehr. Und eben auch 2015 von Syrien über die Ägäis und die Balkanroute nach Deutschland geflohen. Der Film erzählt in wackligen und äußerst wagemutigen Handyvideos von Menschen aus Eritrea, Afghanistan und Syrien auf ihrer Flucht. Näher ran an die Geschichten seiner Erzähler*innen kann ein Film nicht kommen. Ziko hat diesen Film schon x-mal gezeigt und sich dem Gespräch gestellt. Als ich ihn frage, ob es nicht schwer sei, immer wieder „von vorne“ zu erzählen, stockt auch er. Denn einerseits freut er sich, wenn sich junge Leute für diesen Film und seine Geschichten interessieren, andererseits schmerzt es, immer wieder zurück geworfen zu werden.

So wichtig einerseits das Erzählen von Geschichten ist, so gut sie politische Themen auf einer persönlichen Ebene transportieren und so sehr sie zum Heilen von Wunden beitragen können, so riskant ist es andererseits, Menschen zum Erzählen ihrer Geschichten von Flucht und Überleben zu bewegen. Denn genauso wie das Erzählen Wunden heilen kann, so kann es diese auch neu aufreißen und retraumatisierend wirken. Und so braucht das Erzählen von Geschichten einen sicheren Rahmen, das Einverständnis von beiden Seiten, dass jetzt ein guter Moment zum Erzählen und Zuhören ist, und auch die Möglichkeit, Nein zu sagen. Denn echte Geschichten handeln vom Leben echter Menschen.

Übrigens – mitten im Film verlässt Ziko den Raum, da er sich den Stress der Überfahrt im Schlauchboot nicht nochmals antun will. Nächstes Mal schauen wir den Film ohne ihn und besuchen Ziko stattdessen in seinem Theaterprojekt an der „Embassy of Hope“ am Thalia Theater. Dann kann er vom Jetzt erzählen und von seinem Engagement für eine bessere Zukunft. Und, wenn er mag, dann auch von seinem Leben.



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