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Heilige Anarchistin

Peter Maurin vor dem Catholic Worker, Datum unbekannt

Titelseite der ersten Zeitung zum 1. Mai 1933

von Judith Samson / Februar 2023

Journalistin, soziale Aktivistin, katholische Konvertitin, unverheiratete Mutter: Das alles war Dorothy Day, die Mitbegründerin der anarchistisch geprägten Catholic-Worker-Bewegung. Und nun soll sie bald heiliggesprochen werden. Bereits 2000 wurde ihr von der römisch-katholischen Kirche der Titel „Dienerin Gottes“ verliehen und eine Gilde zur Unterstützung des Heiligsprechungsprozesses eingerichtet, nachdem der New Yorker Kardinal O‘ Connor den Prozess angestoßen hatte. Ein Heiligsprechungsprozess für eine Anarchistin, die nicht mit Kritik an der Institution Kirche sparte – ist das nicht ein Widerspruch?

Die Meinung unter den Catholic-Workern dazu ist geteilt. Einige wie Robert Ellsberg oder Dorothy Days Enkelin Martha Hennessy unterstützen den Prozess als Mitglieder der Gilde. In diesem Sinne hoffen sie das Verfahren auch so beeinflussen zu können, dass es der angehenden Heiligen gerecht wird. Andere wie Brian Terrell lehnen ihn ab, weil sie befürchten, dass durch diesen Prozess Dorothy Day „gezähmt“ und von der kirchlichen Hierarchie instrumentalisiert wird.

Der hochgradig institutionalisierte Prozess befindet sich allerdings schon in der finalen Phase1. Er erfordert unter anderem die Überarbeitung aller von Dorothy Day verfassten Dokumente nach einem vorgegebenen Format. Eine Arbeit, die viel Zeit und Geld kostet. Dieses, so meinen die Kritiker*innen, wäre im Sinne Dorothy Days besser den Armen zugutegekommen.

Weil schon zu ihren Lebzeiten ein gewisser Personenkult um sie entstand, erklärte Dorothy Day 1977 einem Journalisten, dass sie nicht als Heilige gesehen werden möchte: „So einfach will ich nicht abgeschrieben werden.“ Denn sie war überzeugt: „Wenn du ein/e Heilige*r bist, dann musst du unpraktisch und utopisch sein und niemand muss dich weiter beachten.“ Diese Sorge teilen die Gegner*innen der Heiligsprechung: Sie könne auf ein Podest gehoben werden, eher um verehrt, weniger um nachgeahmt zu werden.

Bevor wir zur Frage ihrer Heiligsprechung zurückkehren, werfen wir erst einen Blick auf Dorothy Days Leben und die Catholic Worker-Bewegung, um zu verstehen, warum sie heiliggesprochen werden soll.

Geboren wurde Dorothy Day am 8. November 1897 in Brooklyn. Auch ihr Vater war Journalist, allerdings mit einer anderen politischen Ausrichtung als sie. Er, so schrieb sie in ihrer Autobiografie The Long Loneliness (1952), mochte Whiskey, aber keine Ausländer*innen, Jüd*innen, Katholik*innen, Afroamerikaner*innen und Radikale. Religion spielte in ihrer Familie keine große Rolle. Aber als Kind fand sie auf dem Dachboden eine staubige Bibel und erinnerte sich an ein Gefühl der Heiligkeit, als sie sie las2.

Armut und Protest
Mit ihren methodistischen Nachbarn ging sie eine Zeit lang regelmäßig zur Kirche, wurde sehr fromm und ließ sich in der episkopalen Kirche taufen.

Schon als Zehnjährige las sie Victor Hugo, Peter Kropotkin und Thomas von Kempen. Am Ende ihrer Schulzeit lernte sie die Arbeiterbewegung und die Sozialistische Partei kennen. Das wachsende Bewusstsein für Armut entfremdete sie von der Kirche, wo keine Kritik an den armutsverursachenden Verhältnissen geduldet war.

Nach einem abgebrochenen Studium der Geisteswissenschaften begann sie, für verschiedene sozialistische Zeitungen zu schreiben.

Im Frühling 1917 protestierte sie mit den Suffragetten vor dem Weißen Haus in Washington für das Frauenstimm- und Wahlrecht und wurde festgenommen. Daraufhin gingen die Frauen in einen Hungerstreik, was Dorothy unter anderem deshalb durchhielt, weil sie die Psalmen betete. Aus Solidarität mit allen, die immer noch davon ausgeschlossen sind, nahm sie selbst allerdings dieses Wahlrecht nie wahr.

Die Geburt eines Kindes
Während ihrer Arbeit als Krankenschwester im ersten Weltkrieg lernte sie den Journalisten Lionel Moise kennen und wurde von ihm schwanger. Er riet ihr zu einer Abtreibung, weil er keine Familie gründen wollte. Dorothy beschrieb ihren inneren Konflikt und die traumatisch verlaufende Operation in ihrem Roman The Eleventh Virgin (1924).

Schließlich traf sie Forster Batterham, mit dem sie eine große Liebe zur Natur verband. Aber bald führte zu Spannungen, dass Forster zwar ihre politischen, nicht aber ihre Glaubensüberzeugungen teilte. Auch auf die Entdeckung, dass Dorothy nochmals schwanger war, reagierten sie ganz unterschiedlich: Sie war überglücklich, er bestürzt, wie man in diese Welt voller Gewalt und Elend ein Kind setzen könne. Als 1926 ihre Tochter Tamar geboren wurde, beschrieb sie das Glück der Geburt in einem ihrer bekanntesten, international veröffentlichten Artikel Die Geburt eines Kindes. Gleichzeitig wurde sie so von Dankbarkeit erfüllt, dass für sie der Eintritt in die katholische Kirche eine folgerichtige Konsequenz war. Die katholische Kirche deshalb, weil sie die Sakramente und die Heiligen liebte. Außerdem war gerade die katholische Kirche in Amerika diejenige, der die meisten Arbeiter*innen angehörten und damit die „Kirche der Armen“. Schweren Herzens beendete sie deshalb die Beziehung mit Forster, weil er als Anarchist die Ehe ablehnte, sie aber als Katholikin nicht unverheiratet mit ihm zusammenleben wollte und konnte.

Ein weiterer Schmerz war ihre gefühlte Trennung vom aktiven Kampf für die Arbeiterrechte. Denn die katholische Kirche betonte Wohltätigkeit gegenüber den Armen, aber nicht soziale Gerechtigkeit, und so gab sie zunächst ihr politisches Engagement auf und schrieb Drehbücher. Erst als sie Peter Maurin kennenlernte, konnte sie aus ihren zwei Leidenschaften, einerseits für Gott und andererseits für soziale Gerechtigkeit, eine Synthese bilden. Maurin verwirklichte nach verschiedenen Lebensstationen seine „Ein-Mann-Revolution“3 ohne jeglichen Besitz. Er war davon überzeugt, dass die katholische Soziallehre die Essenz des Evangeliums darstelle. Als außerordentlich belesener Pädagoge hatte er sie in kurze, sich wiederholende Textformen gebracht, sogenannte Easy Essays. Er drängte Dorothy zur Herausgabe einer gemeinsamen Zeitung, in der diese Essays erscheinen sollten. Schließlich willigte sie ein, aber veröffentlichte darin vor allem Artikel zu aktuellen sozialen und politischen Protesten, umrahmt von Zitaten aus päpstlichen Enzykliken und den Essays. In Anlehnung an den kommunistischen Daily Worker nannte sie die Zeitschrift Catholic Worker und verkaufte sie für einen Cent pro Stück. Die erste Ausgabe erschien pünktlich zum 1. Mai 1933.

Die Reaktion der Arbeiter*innen auf die Zeitung war allerdings ablehnend, im Gegensatz zu vielen Pfarreien, die positiv reagierten. So begannen langsam die Spenden zu fließen.

Häuser der Gastfreundschaft
I
m Juni 1933 wurden in der Zeitung Maurins drei Programmpunkte zur Umsetzung eines christlichen Kommunismus veröffentlicht: Gespräche am runden Tisch zur „Klärung der Gedanken“, Häuser der Gastfreundschaft und landwirtschaftliche Universitäten zur Verbindung von körperlicher und geistiger Arbeit. Anstelle einer roten Revolution strebte er nach einer grünen Revolution: Jede Gemeinschaft sollte ein Stück Land zur Selbstversorgung haben. Zu seinen Lebzeiten war die Umsetzung schwierig, aber später entstanden vor allem in den USA einige Catholic-Worker-Farmen, die vor allem in den letzten Jahrzehnten, auch bedingt durch ein wachsendes ökologisches Bewusstsein, deutlich zugenommen haben.

Eine Umsetzung des gastfreundschaftlichen Prinzips war auch die 1933 eröffnete Notunterkunft für Frauen in New York, nachdem Dorothys private Wohnung schon lange als Suppenküche, Kleiderkammer und Ort des Austauschs gedient hatte. Bald wurden an verschiedenen Orten in den USA Häuser der Gastfreundschaft eingerichtet, in denen Freiwillige mit Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen Unterstützung brauchten, aufgenommen wurden. Im Buch Loaves and Fishes (1963) erzählt Dorothy, wie die Bewegung rund um die Zeitung wuchs: Junge Menschen schrieben, kochten, verkauften Zeitungen, unterstützten Streiks, betreuten Obdachlose und ließen den arbeitsamen Tag beim Singen des Stundengebets ausklingen.

Heute gibt es etwa 160 Catholic Worker-Gemeinschaften in den USA, zehn in Europa und vereinzelte verteilt über die ganze Welt. Inzwischen ist die Bewegung ökumenisch offen. So beten viele nicht mehr das klassische Stundengebet. In manchen Gemeinschaften gibt es mehrmals täglich Gebetszusammenkünfte, in einigen nur einmal am Tag. Manche leben mit Obdachlosen, andere mit Geflüchteten bzw. Migrant*innen. Allen gemeinsam ist immer noch die Herausgabe einer Zeitschrift oder eines Rundbriefs der jeweiligen Gemeinschaft und das linke politische Engagement für Frieden und gegen Rassismus sowie gegen die kapitalistische Ausbeutung von Erde und Menschen. Für viele von ihnen ist Dorothy Day, die selbst Kleider aus der Kleiderkammer trug und dasselbe Essen wie ihre Gäste aß, schon jetzt eine Heilige, die als Ikone die Gebetsräume schmückt.

Sie selbst verehrte viele Heilige und verwies immer wieder auf sie. Allerdings spielte es für sie keine Rolle, ob diese katholisch waren oder nicht. So gehörte Gandhi ebenso dazu wie Figuren aus Dostojewskis Romanen. Und so war es für sie auch selbstverständlich, in den Eingangsbereich des ersten Gasthauses St. Joseph die Jungfrau von Guadalupe auf die eine Seite des Kreuzes zu stellen und ein Bild von Che Guevara auf die andere. Zu ihrer Lebenspraxis gehörte die tägliche Messe genauso wie Aktionen zivilen Ungehorsams, Suppe kochen, Spenden sammeln und schreiben.

Zur katholischen Kirche hatte Day selbst ein ambivalentes Verhältnis Sie liebte sie als Kirche der Armen und auch wegen ihrer Heiligen und der Sakramente. Aber die Kirche als Institution empfand sie oft als „Skandal“: im Laufe ihrer Geschichte sei sie oft so korrupt geworden, „dass es zum Himmel schreie“. Die Rolle der Bischöfe und Päpste sah sie sehr kritisch, weil sie sich vor allem um weltliche Macht und Geld gekümmert hätten.

Wegen dieser deutlichen Kritik an der institutionellen Verfasstheit der Kirche vermuten Catholic Worker wie Brian Terrell, dass Dorothy Day selbst eine Heiligsprechung abgelehnt hätte4. Er ist auch deshalb dagegen, weil damit der für ihn fragwürdige Prozess der Heiligsprechungen, den er als autoritär, patriarchal und frauenverachtend beschreibt, legitimiert würde. Dazu kommen die schon erwähnten hohen Kosten für das Verfahren.

Die Befürchtung der Instrumentalisierung Dorothy Days für konservative Zwecke erweist sich nicht als unbegründet. So kritisierte der Erzbischof von Los Angeles, José Gomez, im November 2021 die sozialen Bewegungen als „Pseudo-Religionen“ und nannte Dorothy Day als Gegenbeispiel. Sie habe betont, dass soziale Veränderungen mit einem Wandel des eigenen Herzens begännen und das sei derzeit vor allem gefordert5. Auch wenn es stimmt, dass kritische Selbstreflektion und die wöchentliche Beichte essenziell für sie waren, so wird damit ihre revolutionäre Rolle als Advokatin zivilen Ungehorsams aus religiösen Gründen, völlig untergraben.

Ähnlich verhält es sich mit der Frage der Abtreibung. Während sie selbst sie persönlich ablehnte, veröffentlichte sie bewusst nie eine Stellungnahme dazu. Deswegen ist es deplatziert, sie jetzt für Anti-Abtreibungskampagnen einzunehmen, wie einige konservative Kirchenvertreter das in den vergangenen Jahren getan haben6.

Auch wird oft ein angeblicher Kontrast zwischen ihrem Leben vor und dem nach der Konversion konstruiert, der so nicht existiert. So verschwieg Kardinal Dolan, der den Heiligsprechungsprozess wirksam unterstützt, als am 8. Dezember 2021 die letzte Schachtel mit Archivmaterialien für den weiteren Prozess feierlich versiegelt wurde, dass ihr Einsatz für soziale Gerechtigkeit auch nach ihrer Konversion weiterging7. Schon 2000 betonte O´Connor, dass es wichtig sei, zwischen diesen beiden Phasen in ihrem Leben zu unterscheiden. In der späteren Phase habe sie sich deutlich von sozialistischen und kommunistischen Bewegungen distanziert. Ihr inspirierendes Charisma liegt aber gerade in der Kombination von tiefer Religiosität und politischem Einsatz, die aktueller denn je ist.

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1: https://aleteia.org/2021/12/08/dorothy-days-cause-for-canonization-enters-final-phase/, 18.01.2023.
2: Jim Forest: Alles is Genade. Een biografie van Dorothy Day. Eindhoven 2020, S. 20.
3: Monika Schumacher-Bauer: Genossin in Christus «Your fellow worker in Christ, D.D.». Eine ekklesiologische Studie zum Leben und Werk der amerikanischen Journalistin und Sozialaktivistin Dorothy Day (1897- 1980). Zürich 2016, S. 40.
4: Brian Terrell: As Dorothy Day‘s sainthood cause advances, this Catholic worker won’t be celebrating. In: National Catholic Reporter, 7. Dezember 2021.
5: https://archbishopgomez.org/blog/reflections-on-the-church-and-americas-new-religions, 18.01.2023.
6: https://www.nytimes.com/2012/11/27/nyregion/sainthood-for-dorothy-day-has-unexpected-champion-in-cardinal-timothy-dolan.html, 18.01.2023.
7: https://www.americamagazine.org/faith/2021/12/16/dorothy-day-canonization-cause-dulle-242046, 18.01.2023.



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