Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
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This is Not Europe

von Mirjam Oliva/ Dezember 2019

„Diesen Satz höre ich oft. Und ich stelle fest: Doch, auch das ist Europa! Und ich schäme mich dafür.“ So beginnt ein Bericht von Mirjam Oliva, die in der Basisgemeinde Wulfshagenerhütten und in Berlin aufgewachsen ist. Seit Monaten lebt Mirjam auf der griechischen Insel Lesbos und engagiert sich dort in der Solidarität für Geflüchtete v.a. rund um das sogenannte „Hot Spot“-Aufnahmezentrum der EU, Moria. Wir drucken den Bericht an ihre Unterstützer*innen vom 30.9.19 ab:

Warum wird nicht (mehr) darüber berichtet, wenn Menschen auf dem Weg nach Europa sterben? Zuletzt am 27. September: Ein Boot sinkt auf dem Weg nach Chios, einer Nachbarinsel von Lesbos. Zwei Frauen und fünf Kinder ertrinken. Während vor vier Jahren das Bild von Alan Kurdi um die Welt ging, findet diese Tragödie keine internationale Beachtung. Warum wird nicht darüber berichtet, dass Kinder in Moria in Pappkartons schlafen? Dass letzte Woche ein fünfjähriges Kind vor Moria in einem Pappkarton von einem LKW überfahren wurde? Dass momentan 13.000 Menschen in einem Camp leben, das für 3.000 Menschen konzipiert ist? Dass neu ankommende Menschen auf ihre 90 Euro, die sie pro Monat bekommen, wochenlang warten müssen? Dass sie stundenlang für Essen anstehen und es nicht ausreicht? Dass die medizinische Versorgung katastrophal beziehungsweise kaum vorhanden ist? Ich erlebe hier, wie Moria die Menschen kaputt macht. Jeder, der in der Heimat oder auf der Flucht noch nicht traumatisiert wurde, wird es spätestens in Moria. In Europa.

Während ich das schreibe, merke ich, wie ich mich dafür entschuldigen möchte, euch mit diesen Informationen zu belasten. Aber es ist die traurige Realität. Und sie muss gehört werden. Ich spüre jeden Tag die Trauer und Verzweiflung, Hilflosigkeit und Wut der Menschen, die sich hier gefangen fühlen, betrogen von Europa. Alleingelassen. Zurückgewiesen. Heimatlos.

Wie ist diese Situation auszuhalten?
Ich war am Samstag auf einem kleinen Musikfestival in der Nähe von Moria. Viele Menschen kamen: Geflüchtete aus Moria sowie internationale Volontäre von verschiedenen Or-ganisationen. Es gab Musik aus Afghanistan, dem Iran, Syrien, aus verschiedenen afrikanischen Ländern. Es wurde gesungen und getanzt. Gleichzeitig gab es Kurzfilme, gedreht von Geflüchteten: über die Situation in Afghanistan, die Flucht, ihr Leben (?) auf Lesbos und Protestaktionen der letzten Jahre. Es gab eine Ausstellung mit Bildern, die die Situation auf Lesbos dokumentiert. Menschen, die ihre Geschichten erzählen. Die Atmosphäre war sehr eindrücklich: einerseits traurig und nachdenklich, andererseits ausgelassen und fröhlich. Alles an einem Ort. Diese Spannung war nur dadurch auszuhalten, dass wir gemeinsam für eine Sache dort waren – uns damit gemeinsam konfrontieren und zusammenstehen. Eine Dokumentation über Moria ist unter dem Titel „Moria 35“ auch auf Youtube verfügbar. Als wir den Film gemeinsam geschaut haben, sagt ein Mann aus Afghanistan zu mir: „It‘s crushing my heart“. Ich spüre die Angst der Menschen, die in Moria leben und den Film sehen – Angst vor dem Winter, Angst vor Polizeigewalt, Angst vor willkürlichen Verhaftungen und Abschiebungen, wie sie immer wieder stattfinden. Und trotzdem ist die Atmosphäre konstruktiv. Das geteilte Unrecht verbindet die Menschen.

Gleichzeitig ist das Gewaltpotential in Moria sehr hoch. Gestern, am 29. September, kam es zu Ausschreitungen zwischen den Bewohner*innen und der Polizei. Container brannten, Tränengas wurde eingesetzt. Mindestens drei Personen, eine Frau und zwei Kinder, kamen meines Wissens dabei ums Leben. Die Situation ist unübersichtlich und beunruhigend. Moria ist ein lebensgefährlicher und einengender Ort – für Menschen, die sich nach Sicherheit und Freiheit sehnen.

Moria macht den Menschen unmissverständlich klar: Du bist in Europa nicht willkommen! Wir entscheiden, ob deine Fluchtgründe angemessen sind.

Wie die Menschen unter der Ablehnung Europas leiden, wird mir immer wieder deutlich, wenn ich die Bilder sehe, die im One Happy Family-Community Center, einer Organisation nicht nur für, sondern mit Geflüchteten, täglich gemalt werden. Ich realisiere immer mehr, wie systematisch die Menschenrechte an den Grenzen Europas missachtet werden. Wenn ich auf Lesbos den Krankenwagen rufe und gefragt werde, welche Nationalität die verletzte Person hat, hat das nichts mit Gleichheit zu tun. Wenn ich in Moria für bessere Lebensbedingungen protestiere, inhaftiert und abgeschoben werde, hat das nichts mit Meinungs-, Demonstrationsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zu tun. Die Menschen protestieren dafür, als Menschen gesehen zu werden – mit Rechten, die in Europa hoch gehalten werden.

Ich grüße euch aus Lesbos!
Newsletter IV 30. September 2019, Mirjam Oliva



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