Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit
Gastfreundschaft für Flüchtlinge
Leben in Gemeinschaft
"No Chance"

Foto: Pro Asyl

von Mara / Dezember 2010

Herbst 2010 in Calais: Frankreichs Grenzpolitik, Flüchtlingsschicksale und nie geahnte humanitäre Abgründe mitten in Europa.

Ahmed sitzt neben mir auf dem kalten Beton der Essensausgabe. Wir essen aus Plastikschälchen, während er mir von sich erzählt. Mir laufen kalte Schauer über den Rücken.

Nach einer ärmlichen Kindheit erlebte er in Afghanistan Bombennächte und Schüsse auf offener Straße. Als sein Vater bei einem Bombenangriff umkam, ent­schied seine Familie, dass Ahmed als ältester Sohn mit 15 Jahren alt genug sei, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Alle Hoffnung wurde auf ihn gesetzt. Er sollte arbeiten, Geld nach Hause schicken. Vielleicht könnte er sogar eine Möglichkeit finden, die Geschwister nachzuholen. Die letzten Ersparnisse wurden zusammengekratzt, Möbel verkauft, Verwandte um Geld gefragt, um die Schlepper zu bezahlen. Dann begann seine Reise. In überfüllten Autos über Grenzen, versteckt in LKWs oder zu Fuß durch Wälder und über Berge. Die Schlepper organisierten seine illegale Einreise nach Europa über viele Stationen hinweg. Diese Schlepper oder Menschenschmuggler bringen Menschen auf der Flucht gegen ziemlich viel Geld illegal über Grenzen. Sie bereichern sich an der Not der Flüchtlinge, ermöglichen aber auch erst die Flucht nach Europa. Wurde jemand in der Flüchtlingsgruppe, mit der Ahmed unterwegs war, krank oder gab es kein Essen mehr, so kümmerte das die Menschenschmuggler nicht. Sie ließen die Schwächeren dann einfach zurück, die, die nicht mehr weiterkonnten. Auch die Polizei nahm einige der Flüchtlinge fest, um sie an der illegalen Einreise zu hindern. Aber Ahmed hatte Glück. Er war jung, und die anderen versuchten, ihn zu beschützen, gaben ihm die größere Kartoffel, wenn es nur eine am Tag gab, halfen ihm in das beste Versteck. So hat es Ahmed bis in den Norden Frankreichs, nach Calais, geschafft. Mitgenommen sieht er aus, aber das Lachen hat er nicht verlernt. Er macht viele Witze während seiner Erzählung. Er lacht laut und erzählt dann weiter. Vielleicht, denke ich, ist das die einzige Möglichkeit all diese Dinge zu verarbeiten, den ganzen Wahnsinn einer Flucht einigermaßen zu verkraften.

Ahmed will nach England. Seine Augen beginnen zu strahlen, als ich ihn nach dem Grund frage. Er spricht von der guten Bildung in England, von einer Gesellschaft, die keinen Rassismus kenne und ihn als Muslim respektieren würde. Außerdem möchte er auch zu seinem Onkel, der schon vor Jahren mit seiner Familie nach England geflüchtet ist. Ahmed will nach England, ausgerechnet nach England, das seine Außengrenzen besonders scharf kontrolliert. (...)

Jährlich kommen Hunderte von MigrantInnen durch Calais, wo sich die französische und die englische Küste am nächsten sind. Von hier fahren die meisten Autos und LKWs mit der Fähre nach Dover, England. Nacht für Nacht versuchen die Flüchtlinge sich auf LKWs einzuschleichen und so auch ohne Pass den Ärmelkanal zu überqueren. Trotz modernster Kontrollmechanismen gelingt es immer wieder einigen von ihnen nach England einzureisen, ohne entdeckt zu werden. Doch bis es soweit ist, stecken sie oft monatelang in Calais fest. Sie leben dann von der Essensausgabe der ortsansässigen Hilfsorganisationen und schlafen in leer stehenden Abrisshäusern oder in „Jungles“. So werden im Unterholz versteckte Zelte oder aus Plastikplanen improvisierte Schlafgelegenheiten genannt.

Wenn die Flüchtlinge dann in England ankommen, beantragen sie dort Asyl. Das können sie allerdings nur, wenn sie nicht zuvor schon in anderen europäischen Ländern verhaftet wurden. Bei einer solchen Verhaftung werden den MigrantInnen oft die Fingerabdrücke abgenommen und in die europäische Datenbank EURODAC eingespeist. Nach dem Dublin-II-Abkommen müssen Asylsuchende in dem ersten europäischen Land, das sie betreten, Asyl beantragen. Dieses Land wird dann als ein „sicherer Drittstaat“ bezeichnet. Da die Ankunftsländer in der Regel die südlichen EU-Staaten sind, kommen die Behörden dort kaum noch dazu, neue Asylanträge zu bearbeiten, und die Flüchtlinge leben oft unter haarsträubenden Bedingungen. Reisen sie dann aber weiter, anstatt in diesen Ländern auf Asyl zu hoffen, können die Fingerabdrücke aus der Datenbank als Beweis dienen: Die illegal Einwandernden können dann in den „sicheren Drittstaat“ „zurückgeschoben“ werden.

Aus Angst vor einer derartigen Abschiebung machen manche Flüchtlinge ihre Fingerabdrücke mit glühenden Eisen oder Schmirgelpapier unkenntlich. Wenn ihnen nicht nachgewiesen werden kann, durch welche anderen europäischen Länder sie eingereist sind, können sie nicht in diese „sicheren Drittstaaten“ abgeschoben werden. Doch als einzige Perspektive bleibt ihnen dann die Illegalität. Sie versuchen bei Verwandten oder Freunden unterzukommen und „schwarz“ zu arbeiten. Die Aussicht auf Bleiberecht, auf den Nachzug von Familienmitgliedern, auf vertraglichen Schutz vor Ausbeutung am Arbeitsplatz sind ihnen ganz und gar versperrt. Die Abschiebung droht ihnen täglich.

Ahmed gibt den Rest seines Essens den Möwen, die sich darauf stürzen, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen. Dann füllt er für einen Freund eine Plastiktüte mit den Broten, Bananen und Joghurts, die andere liegen gelassen haben. Sein Freund ist nicht zur Essensausgabe gekommen. Er hat sich vor zwei Tagen den Fuß gebrochen, als die Polizei sie nachts verhaften wollte und alle wegrannten. Heute lädt Ahmed mich in ihren „Jungle“ ein. Die afghanischen Männer und Jugendlichen, die hier Unterschlupf suchen, sitzen abends auf den stillgelegten Bahngleisen, ein paar Meter von den Zelten entfernt. Dort angekommen erhellt ein Feuerchen die Nacht. Jemand singt in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Es werden Geschichten erzählt, wieder wird viel gelacht. Sie warten. Später in der Nacht werden sie dann erneut in kleinen Gruppen zu den Parkplätzen am Hafen gehen. Wie schon so oft werden sie ihr Glück herausfordern und probieren, unbemerkt auf einen der LKWs zu gelangen.

Falls sie nicht schon in den Stunden vor diesem Versuch verhaftet werden. Denn wie jede Nacht hier in Calais dreht die Polizei ihre Runden. Fast jede Nacht kommen sie in den „Jungle“. Dann verhaften sie die MigrantInnen, die nicht schnell genug fliehen können. Können sie niemanden festnehmen, zerschlitzen sie häufig die Zelte, pinkeln auf die Schlafsäcke oder verschütten Öl und Chemikalien.

Mit genau dieser ununterbrochenen Repression durch die Polizei beschäftigt sich die Gruppe „No Borders“, der auch ich angehöre. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Aktionen der Polizei zu dokumentieren und zu verhindern. Die Teilnehmenden kommen aus vielen Regionen Europas. In Calais sind wir nun seit einem Jahr aktiv. Wir fordern Bewegungsfreiheit für Alle, also die Freiheit zu reisen, ob mit oder ohne Visum. Außerdem möchten wir die Idee von „Grenzen“ und deren Notwendigkeit in Frage stellen. Dass es also nicht naturgegeben ist, dass einige mit ihrem Pass ohne Probleme nach Großbritannien einreisen können, während anderen der Zutritt verwehrt wird. Neben alltäglich notwendiger Unterstützung für die Flüchtlinge wie das Verteilen von Decken und Zelten ist es uns also wichtig, Diskussionen anzustoßen. Mit Infoständen, Demonstrationen und Plakataktionen machen wir auf unsere Sicht der Dinge aufmerksam. Wichtig ist uns aber auch die tägliche Solidarität mit den MigrantInnen. Wir zeigen ihnen, dass es auch Personen gibt, die sie in Europa willkommen heißen wollen. Wir behandeln jeden Menschen gleich, egal woher er oder sie kommt. So schließen wir Freundschaften, die länger dauern als unsere Aufenthalte in Calais. (...) Englischunterricht und Informationen über das Asylsystem in Großbritannien sollen den Flüchtlingen ihren weiteren Weg und vor allem ihr Ankommen erleichtern. Wir „No Borders“ stehen nachts vor den „Jungles“ und leerstehenden Häusern, in denen die Gruppen von Flüchtlingen schlafen und warnen diese, wenn die Polizei kommt.

Und trotz all dieser Versuche, die Situation für die Flüchtlinge zu verbessern, lebenswerter zu machen, muss ich leider feststellen, dass sich in diesem letzten Jahr wenig getan hat. Im Gegenteil, die Polizeirepression steigt stetig, viele der MigrantInnen weichen nun auf benachbarte Küstenstädte aus und versuchen ihr Glück von dort. Vielen sieht man die Angespanntheit, die Schlaflosigkeit und die Hoffnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben.

Am nächsten Tag gehe ich wieder zur Essensausgabe der humanitären Hilfsorganisationen. Ich durchsuche die Schlange der Wartenden nach Ahmeds Gesicht und hoffe, wünsche, bete, es nicht zu entdecken. Das könnte bedeuten, dass er es „geschafft“ hat. Auch wenn nicht klar ist, was ihn in Großbritannien erwarten wird, wäre er seinem Ziel eines friedlichen Lebens doch einen Schritt näher. Es könnte aber auch bedeuten, dass ihn die Polizei verhaftet hat. Doch da kommt er mir entgegen, zwei Becher dampfenden Tees in der Hand. „No Chance!“ sagt er lachend, während er mir einen der Becher überreicht.

Mara (dieser Text erreichte uns über Marvin Lüdemann)

Infos über die Situation der Flüchtlinge in Calais und über Soli-Aktionen: www.calaismigrantsolidarity.blogsport.de

Kontakt über Email: solidaritaet-mit-calais@gmx.de



Mittragen

Unsere Gastfreundschaft für obdachlose Flücht­linge wird erst mög­lich durch Spenden und ehren­amtliche Mitarbeit
weiter...

Mitfeiern

Hausgottesdienste, Offene Abende und immer wieder mal ein Fest: Herzlich will­kommen bei uns im Haus der Gast­freund­schaft
weiter...

Mitbekommen

Möchten Sie regel­mäßig von uns hören und mit­bekommen, was pas­siert? Abonnieren Sie am besten unseren kosten­losen Rundbrief
weiter...

Mitleben

Immer wieder fragen uns interessierte Menschen, ob und wann sie uns be­suchen kommen können. Wir freuen uns sehr über dieses Inter­esse.
weiter...