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Requiem - Gedenke!

„Ihre Namen werden eingeschrieben sein in das Buch des Lebens“ (Jesaja 43) – tausende Ereignisse an den EU-Grenzen, bei denen Flüchtende starben.

von Dietlind Jochims / Dezember 2015

Angesichts der großen Zahl an geflüchteten Menschen, die aktuell nach Europa kommen, gerät leicht in Vergessenheit, dass die europäischen Außengrenzen nach wie vor die tödlichsten der Welt sind. In 2015 starben bis Ende Oktober fast 3400 Menschen auf ihrem Weg nach bzw. durch Europa – mehr als jemals zuvor in einem Jahr. Darum ist es gut, am Volkstrauertag zusammen zu kommen und dieser vielen, meist namenlosen Toten zu gedenken. Wir drucken hier die Predigt von Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, die sie am 15.11. in der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi hielt.

Die Gnade Gottes, die Liebe, die Jesus Christus uns vorgelebt hat und die Kraft des Heiligen Geistes sind mit uns allen. Auch in Momenten, in denen wir sie wenig spüren.

Liebe Gemeinde, liebe Gedenkende! „Manchmal weiß man einfach nicht, was man sagen oder schreiben soll, weil man die Welt, in der man lebt, einfach nicht mehr mag oder versteht.“ Das ist ein Zitat eines deutschen Satirikers. Und mit dieser Sprach- und Hilflosigkeit möchte ich beginnen.

So viele Tote. So viel sinnloses Sterben.
Wir gedenken heute der Menschen, die vor Terror, Gewalt, Krieg, Verfolgung und Armut Sicherheit bei uns suchten und den Weg nicht überlebt haben.
Und ganz aktuell auch an die, die vorgestern aus ihrer Sicherheit so gewaltsam gerissen worden sind von eben diesem Terror.
So viele Tote und so viel sinnloses Sterben. In Paris und auch in Beirut, immer wieder und täglich vor Lesbos, in Calais, an unseren Grenzen.
So viel Ungewissheit oder Unglück bei den Angehörigen und Überlebenden.
Dieses Sterben, dieser Terror machen Angst. Sie machen traurig und betroffen. Wie halten wir das aus? Wo haben die Fassungslosigkeit und die Ohnmacht einen Platz?
Ich glaube, wenn wir mit diesen Gefühlen allein bleiben, kommen wir uns noch viel kleiner und schutzloser vor den Dämonen gegenüber.
Wer sind wir denn für uns selbst in dieser großen verwirrenden und beängstigenden Welt?

Mit der Sprachlosigkeit habe ich begonnen. Aber sie ist nicht das Ende.
Ich hoffe, dass wir gerade in unserer Fassungslosigkeit und Ohnmacht zusammenstehen. Wir sind nicht allein.
Wir sind miteinander still angesichts der Toten, wir zünden Lichter an, die in ihrer Summe die Dunkelheit ein wenig heller machen.
Wir sprechen Gebete, wenn wir beten können, und suchen andere Wege, zu trösten, wenn Gebete einzelne von uns nicht tragen.
Wir sind viele. Nous sommes unis. Auch in unserer Ohnmacht.
Und nach dem Erschrecken? Nach der ersten Erschütterung? Wohin können wir sie wandeln, die Ohnmacht?
Manche versuchen es mit schnellen Erklärungen, schnellen Schuldzuweisungen. Völlig absurd, aber real sehr gefährlich ist es, wie sich seit vorgestern die ersten Kommentare ausbreiten.
Ausgerechnet die, die vor dem Terror geflohen sind, ausgerechnet die Opfer werden doppelt verhöhnt, wenn jetzt die Flüchtlinge für ihren Fluchtgrund verantwortlich gemacht werden.

Terror ist nicht die Folge davon,
dass so viele Menschen zu uns kommen.
Terror ist der Grund dafür.

Zu was also treibt uns das gemeinsame Aushalten dieser Welt?
Denn Gedenken ist nicht starr oder statisch.
Es bewegt uns. Aus dem Gedenken wächst eine neue Kraft.
Die Christinnen und Christen seien Protestleute gegen den Tod, hat der Schweizer Theologe Kurt Marti einmal gesagt.
Nicht schnelle Schuldzuweisungen also, sondern Protest.
Protest gegen all das, was unterlassen wird, um Menschenleben zu retten und zu schützen.
Protest gegen eine mediale Betroffenheitskultur, die immer wieder so schnell vergisst.
Protest gegen all das, was wir nicht sehen wollen in den Zusammenhängen von Macht, Gier und Sterben.

Ich bin so entsetzt wie alle über die Terrormorde in Paris.
Es ist richtig und wichtig, dass wir anhalten, innehalten.
Aber es macht mich traurig und wütend, wie selektiv wir trauern. Wo ist die Trauer um die Toten in Beirut vorgestern?
In Kabul, in Bagdad immer wieder?
Nehmen wir die vielen Terrortoten in Syrien überhaupt noch wahr?

Ich erinnere mich an die Betroffenheit im Oktober 2013 über eines der großen Bootsunglücke mit Geflüchteten vor Lampedusa. Nie mehr, hieß es da, dürfe das geschehen. Und ich erinnere und sehe, wie schnell die globalisierte Gleichgültigkeit, die der Papst eindrücklich kritiserte, sich wieder eingestellt hat und sich immer wieder einstellt.

Die Worte sind wieder groß seit vorgestern. Sie sind oft richtig.
Ja, wir müssen unsere Werte leben, liberté, égalité, fraternité.
Respekt für das Leben. Das aufgeklärte Europa.

Aber so einfach ist es nicht.
Denn eben dieses aufgeklärte tolerante Europa verrät seit Jahren seine proklamierten Werte oder befindet sich zumindest in einem hilflosen Ringen um sie. Europa verneint gerade in der momentanen Diskussion die Menschenrechte der Flüchtenden.
Was auf die großen Worte der Wertegemeinschaft bisher gefolgt ist, ist ihnen nie gerecht geworden.

Stattdessen kommt die bekannte Abwehrreaktion:
Wir igeln uns und unseren Wohlstand wieder ein, wo wir noch nicht einmal gespürt haben, was Teilen wirklich heißen könnte.
Wir bauen wieder Zäune und Mauern, diskutieren, errichten und schließen Grenzen. Dabei glauben wir doch an einen Gott, der uns hilft, Mauern zu überspringen.
Wir grenzen aus und erzählen uns Geschichten von Jesus, der von den Hecken und Zäunen die Menschen einlädt.

Wir müssen unsere Werte entschieden verteidigen, hat der Pastor, der dann Bundespräsident wurde, Joachim Gauck, gesagt.
Ich denke, das gelingt nur, wenn wir sie entschieden leben.
Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit.
Dazu gehört ein ehrlicheres Nachdenken über Grenzen und Begrenztheiten, über Zusammenhänge, Ursachen und Konsequenzen.

Paris, Beirut und die Toten an unseren Grenzen hängen zusammen. Wir müssen sie zusammen denken.
Und für dieses Denken brauchen wir einander.
So wie die Angst uns allein überwältigen kann, bringt uns das isolierte Denken an unsere Grenzen.
Ein ehrliches Vorankommen wird uns nur miteinander gelingen.

Wo ist die Kraft unseres Glaubens in all dem?
Der Gott, der uns Mauern überspringen lässt.
Der Gott, der sagt, fürchte dich nicht.
Der Gott, der sagt, in der Welt habt ihr Angst, aber seht, ich habe die Welt überwunden.

Ich sehe etwas von dieser Kraft heute hier.
Ich sehe sie an den gemeinsamen Anstrengungen von Moscheen, Kirchen und Anderen in der nächtlichen Unterbringung von Transitflüchtlingen.
Ich sehe sie in dem anhaltenden Engagement und den Begegnungen von Menschen.
Ich sehe sie in ehrlichen Diskussionen, und ja, die haben auch unsere Grenzen zum Inhalt.

Aber ich vermisse sie als eine öffentlich und politisch gewollte Kraft, die unsere Werte sucht und benennt und ihnen Gültigkeit für alle verleihen will.

Es gibt keine Hierarchie der Menschenrechte und es gibt keine Hierarchie der Toten.

Vom Gedenken zum Protest zum Gang an die Grenzen.
Ich bete und hoffe, dass endlich etwas daraus erwächst.
Dass wir diesen Gang wagen. Dazu zum Schluss ein Zitat des islamischen Mystikers Rumi aus dem 13. Jahrhundert:
Beyond our ideas of rightdoing and wrongdoing there is a field. Let’s meet there.” „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Lass uns dort treffen.“



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